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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0350
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Grundsätze des Philosophierens

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4. Die Einrichtungen im Verhältnis zur Gleichheit und Ungleichheit der Men-
schen: Es ist die grosse Forderung der Gerechtigkeit, dass alle Menschen gleich sein,
gleiche Rechte haben sollen. Es ist aber die unüberwindliche Tatsächlichkeit, dass die
Menschen erstens von Natur ausserordentlich verschieden geboren werden, dass zwei-
tens in der Daseinsordnung die unumgänglich verschiedenen Aufgaben den Men-
schen verschieden prägen.
Die Ungleichheit der Menschen ist in der Tat ganz ausserordentlich, zwischen den
Geschlechtern und Lebensaltern, zwischen den auf der Erdoberfläche verteilten[,]
durch Kultur und Rasse verschiedenen zwei Milliarden Individuen und zwischen den
Menschen der in sich geschlossenen Bevölkerungen. Hier werden die Menschen zu
verschiedenen Charakteren schon vermöge ihrer Artung, die sie, soweit sie freie Wahl
haben, zu den besonderen Tätigkeitsmöglichkeiten treibt, von welchen dann langsam
ihr Leben geformt und ihr Wesen bestimmt wird. So entsteht die Mannigfaltigkeit der
Charaktere durch die Weise der immer bestimmten und besonderen Teilnahme am
Ganzen, durch die Berufe. Es ist zum Beispiel ein bis ins Innerste der Daseinsanschau-
ung und der Entschlussweise gehender Unterschied zwischen dem Staatsmann, der
Politik treibt, und dem Beamten, der verwaltet, als Richter Rechtsprechung übt, als
Lehrer unterrichtet, als Berufsofficier, als Ingenieur wirkt. Der Staatsmann hat aus
freier Verantwortung geschichtliche Entschlüsse zu finden, sein Ethos ist Haftung für
den Erfolg seines Tuns inbezug auf das Dasein der ihm anvertrauten Menschen und
die Ermöglichung des Spielraums und des Ranges ihrer Wesensverwirklichung. Der Be-
amte ist gebunden durch Gesetz und Ordnung; sein Ethos ist Gehorsam, Pflichterfül-
lung, Gesetzestreue. Weiter gibt es die Unterschiede zwischen der körperlichen Arbeit,
der bürokratischen Tätigkeit, dem freien geistigen Schaffen, zwischen den Situationen
der Über- und Unterordnung. Es ist ein weites Feld, auf dem durch Beobachtung und
Wesensanschauung die wunderbare Mannigfaltigkeit menschlichen Tuns in Verbin-
dung mit der Charakterprägung zu vergegenwärtigen wäre.
Die entgegengesetzte Position ist: alle Menschen sind gleich. In der Tat sind wir alle
wesentlich gleich durch die Endlichkeit, die uns eigen ist, durch die Möglichkeit der
Existenz, die wir theologisch die unsterbliche Seele nennen, durch den berechtigten
Anspruch, miteinander in Communication zu treten, durch die Grundformen unse-
res Bewusstseins überhaupt. Aber wir sind nicht wesentlich gleich in unserer besonde-
ren Artung, in Charakter und Begabung, und sind nicht gleich in den Aufgaben, die
im Dasein an uns herantreten und die nicht erfüllt werden können, ohne dass einzelne
sich einzelnen Aufgaben restlos hingeben.
Die Antinomie von tatsächlicher Ungleichheit und Forderung der Gleichheit ist
vergeblich gelöst worden, wenn allein der einen Seite Wahrheit zuerkannt wurde.
Dann wurde die Forderung der Gleichheit zu einer abstrakten, deren Verwirklichung
niemals Gleichheit, sondern Nivellierung und Despotie brachte. Oder es wurde, und
 
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