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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0364
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Grundsätze des Philosophierens

36i

stets bereit bleibt hervorzubrechen, sobald der Zwang aufhört. Erst etwas Künstliches,
die Civilisation, Sitte und Recht können ihn gut machen. Das Gute kommt von aus-
sen. Statt zahlloser anderer sei ein chinesischer Philosoph citiert. Hsün-Tse (3. Jahrh.
vor Chr.) sagt (Forke I, 226): »Die menschliche Natur ist böse, was gut daran ist, ist
künstlich. Nach ihrer Natur lieben die Menschen ihren Vorteil und, indem sie sich die-
ser Neigung hingeben, entsteht Streit und Raub ... Von Haus aus sind sie voll Neid und
Hass, aus diesen Eigenschaften entwickelt sich Brutalität und Zerstörungssucht... Von
Natur haben sie die Begierde der Augen und Ohren. Ein Nachgeben diesen Neigungen
gegenüber führt zu Ausschweifungen und Verwirrung... Wenn man der menschlichen
Natur folgt, so gelangt man sicherlich zu Streit und Raub, kommt in Konflikt mit den
Pflichten, verwirrt alle Principien und verfällt wieder in den Zustand der Rohheit.«260
Insbesondere ist die Macht unter dem Gesichtspunkt gut oder böse beurteilt wor-
den. Der Satz: die Macht an sich ist böse (Schlosser, Burckhardt)261 ist wahr, sofern er
den losgelösten Machtwillen trifft, nicht wahr, insofern Macht im Dienst des Guten
gebraucht werden kann. Der Wille zur Macht ist böse, sofern er keine Grenzen kennt,
sich selbst kein Mass setzt. Er ist den Menschen noch in ihrer Ohnmacht zu eigen, stets
sprungbereit, selten durch sittliche Kraft, oft durch Müdigkeit, Bequemlichkeit, Angst
gehemmt, an sich immer ohne Grenze und Maass.
Beiden Lehren gegenüber - der Mensch an sich gut, der Mensch an sich böse - ist
die relative Wahrheit in beiden Positionen festzuhalten. Aber die Verabsolutierung ei-
nes Urteils ist so entschieden zu verwerfen wie jedes endgültige Wissen vom Menschen
im Ganzen, das mehr sein will als Auffassen von Momenten seiner Natur. Der Mensch
ist gut und böse in jedem Sinne dieser Worte. Er ist vor allem nicht endgültig, bewahrt
Möglichkeit und ist von keinem Menschen - als ob er sich über die Menschen stellen
könnte - zu überblicken. Der Mensch ist auch das, was noch aus ihm werden kann. Er
trägt in sich etwas wie unwiderrufliches Natursein, aber ist zugleich geschichtlich ge-
wachsen. Er ist an sich nicht schon gut oder böse oder beides, sondern er ist auf dem
Wege, gut oder böse zu werden.
Alle diese Lehren betrachten den Menschen überhaupt in seiner Naturanlage. Dazu
kommt aber als wesentlich die Auffassung der Menschen in ihren Charakteren, in der
Mannigfaltigkeit ihrer besonderen Artung. Bei der Verschiedenheit angeborener Cha-
raktere ist der Mensch nicht auf einen Nenner zu bringen. Man muss mit von einander
abweichenden Grundlagen der Artung in Individuen und in ganzen Bevölkerungen im
Unterschied von anderen rechnen. Hier liegen vielleicht die unüberwindlichsten Gren-
zen für die Verwirklichung der Idee. Aber wir wissen noch nicht, wo sie liegen. Und ge-
gen alle Verschiedenheit mit den Folgen der Unüberbrückbarkeit eines Verstehens steht
die Wirklichkeit der Idee des Menschseins, die es verbietet, die einzelnen Menschen da-
von auszuschliessen, indem man sie endgültig subsumiert unter vermeintliche Arten
bestimmt erkannten Soseins.
 
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