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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0390
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Grundsätze des Philosophierens

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Aber in der Losgelöstheit solchen rein immanenten Begreifens wird alles leer, un-
ernst und glaubenslos. Aus sich selbst ist hier nichts von dem Gewicht, das einen Ein-
satz des Lebens rechtfertigt. In der Tat ist dem Menschen diese Leere unerträglich. Da-
her findet nach dem Verlust des transcendenten Grundes ersatzweise eine abergläubische
Vergötterung statt, die Vergötzung eines Geheimnisses blosser Gewalt, der Absolutheit
gesetzlicher Maschinerie der Amtsführung, insbesondere aber die Menschenvergötte-
rung (die schnell [,] wie sie in der Ratlosigkeit entstehen kann[,] den Vergötterten auch
schnell wieder fallen lässt, wenn er die Not nicht behebt). Im Wirbel von tatsächlicher
Anarchie und gewaltsamer Organisation des Anarchischen findet der Ersatz echter Au-
torität durch künstliche Autorität statt, welche die brutale Gewalt des Leeren nur ver-
schleiert. Solche Autorität ergreift nicht die Herzen, sondern verrauscht im Strohfeuer
augenblicklicher Leidenschaft, während wahre Autorität im Umgreifenden gegründet,
aus der Geschichte beseelt, auf Gott bezogen ist. So hängt die Autoritätslosigkeit zusam-
men mit gewaltsamer Herrschaft, wie die Glaubenslosigkeit mit dem Aberglauben, der
Drang zur Willkür ungebundener Freiheit mit dem Drang zu blinder Unterwerfung, die
Gottlosigkeit mit der Menschenvergötterung.
bb. Leibhaftigwerden der Autorität: Die Autorität muss sich geschichtlich in be-
stimmten Erscheinungen concentrieren, in Ordnungen und Forderungen, in Dogmen
und Gesetzen, in Menschen und Ämtern. Das Umgreifende wird ein aussen und da-
mit ein Gegenstand, die Transcendenz wird leibhaftig. Im Politischen ist das nicht an-
ders wie in allem menschlichen Leben. Gott ist nicht da. Er spricht, wenn er zu uns
spricht, nur durch Erscheinungen in der Welt, und in diesen vieldeutig, für den Glau-
benden geschichtlich bezwingend, für den anders Glaubenden aber in anderem Sinn,
niemals jedoch objektiv allgemeingiltig. Alles objektiv Allgemeingiltige ist innerwelt-
lich, ohne Gott, zu begreifen.
Das ewige Schicksal des Menschen liegt in der Weise, wie er die bestimmte Erschei-
nung der Transcendenz auffasst. Weil die Erscheinung und seine Deutung der Erschei-
nung sich kristallisieren in bestimmten Gestalten, Begriffen, Gesetzen, darf er doch,
um frei zu bleiben für die Transcendenz selbst, diese nie verwechseln mit dem, was
möglicherweise ihre Sprache und dann immer nur geschichtlich bestimmte Sprache
in der Zeit ist. Verfällt er an diese Bestimmtheiten, so reisst er übereilt und vorgreifend
die Transcendenz hinein in Leibhaftigkeiten, die eine Vergötzung bedeuten. Z.B. wer-
den die Bilder substantialisiert. Dann verschleiern dämonische Mächte die Transcen-
denz. Ich bin, statt im Bilde den Aufschwung zur Transcendenz zu gewinnen, durch
das Bild hindurch vom Bilde frei der Transcendenz geöffnet zu werden, vielmehr dem
Bilde als »imago« unterworfen, unbemerkt von ihm überwältigt. Statt Gott zu errei-
chen, werde ich Spielball des Numinosen.
Die Reinheit der Transcendenz verwehrt die Incarnation. Sie wird, wenn die Welt
ihr Sprache wird, mit nichts in der Welt identisch. Es gibt keine Verleiblichung der
 
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