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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0457
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Grundsätze des Philosophierens

Ordnung besteht, an der er Teil hat, und der er selber erwächst. Massenordnung aber
bleibt nur lebendig, wenn aus dem Wagnis der Einzelnen auch für die Massenordnung
die Impulse kommen, die neuen Erfahrungen in den Verwandlungen der Welt zu den
je gegenwärtigen geschichtlichen Gestaltungen des ewig Wahren werden zu lassen.
aa. Historische Beobachtung der Ansprüche der Masse: Die historische Beobach-
tung zeigt, dass Philosophie niemals imstande war, Massen zu führen. Das vermochte
nur Religion. Aber nicht schon Religion in der Gestalt, die sie in philosophischen Glau-
bensgrundsätzen hat, nicht schon der Glaube an Gott, an unbedingte Forderungen,
nicht irgendein anderer Glaubensinhalt. Das alles scheint als solches blass, unreal und
damit unwirksam für die Masse zu werden. Diese braucht, um zu folgen, handgreifli-
che Realität. Ihr genügt nicht die Wirklichkeit, die im Transcendieren erfahren3 wird,
sondern sie bedarf der Realität dieser Wirklichkeit. Eine Realität in der Welt muss sel-
ber absolut sein. Das Unbedingte in der Innerlichkeit wirkt nicht, sondern nur der
Zwang des Tatsächlichen. Das Transcendente muss Leib werden und Macht in der
Welt, um Massen zu ergreifen.
Religion muss daher, wenn wir an Massenwirkung denken, noch einmal specifisch
und nicht in unbestimmter Weite ihres Sinnes genommen werden. Religion ist das für
alle Glieder einer Gemeinschaft Gütige, das sich im Faktischen zeigt als in der Welt ab-
gegrenzte, bestimmte, leibhaftige, von allem Profanen getrennte Heiligkeit.
Daher zuerst die Autorität, die in ihrer Handgreiflichkeit unumgehbar ist. Nicht
Gott, nicht heilige Bücher und nicht Glaubensinhalte, sondern zuerst die Gegenwär-
tigkeit der Autorität ist ein Wesenszug dieser Religion. Darum kann sogar Augustin sa-
gen, dass nicht die Bibel ihn zum Glauben bringt, nicht das Wort, sondern die Auto-
rität der gegenwärtigen Kirche, durch die die Bibel als Offenbarung behauptet wird.336
Daher weiter die Leibhaftigkeit des im Glauben Gedachten: nicht Symbole und
nicht eine erst noch zu verstehende Sprache der Transcendenz, sondern die Greifbar-
keit von Hölle und Himmel, von in der Welt ausgesparter Heiligkeit, die den gegen-
wärtigen Schauer und die Neigung zur Unterwerfung erweckt, und die Notwendigkeit
des Kultus als Genuss und Erfüllung gegenwärtiger Transcendenz.
Daher weiter die historisch in Zeit und Raum lokalisierte bestimmte Offenbarung.
Philosophierend lösen wir uns zwar von der direkten Offenbarung als einem specifi-
schen in der Welt vorkommenden Unmittelbaren, aber für die Religion bleibt doch die
Bindung der Gehalte an geglaubte Offenbarung eine Bedingung ihrer Massenwirkung.
Daher schliesslich das Versprechen und die Garantie bestimmter Leistungen zu-
gunsten der glaubenden, sich unterwerfenden und die gestellten Forderungen erfül-
lenden Menschen. In den Erlösungsreligionen liegt die Leistung in der Erlösung des
Menschen zu ewigem Heil; in aller Religion vor den Erlösungsreligionen und in ihnen

nach erfahren im Ms. gestr. und berührt
 
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