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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0517
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514

Grundsätze des Philosophierens

Erst das historische Wissen zeigt den Tatbestand3. Für die historisch Wissenden ist
dann die Aufgabe, dass sie im geschichtlichen Verwandlungsprocess das ewig Wahre
retten dadurch, dass sie sich der jeweils notwendigen Verwandlung der Erscheinung
anvertrauen, indem sie sie hervorbringen, und dadurch [,] dass sie das Ursprüngliche
und Ganze aus den Abgleitungen, Verengungen, Verkehrungen immer wieder zurück-
holen.
Die unumgängliche Grundlage unseres religiösen Bewusstseins ist die biblische Re-
ligion. Alles, was im Abendland religiös zu uns spricht, kommt von der Bibel her, auch
da, wo die Bibel bekämpft wird. Daher ist die geschichtliche Grundfrage nach der Zu-
kunft unseres religiösen Lebens: Wohin verwandelt sich die biblische Religion und
ihre Erscheinung in Dogmen, Gesetzen, Symbolen, damitb ihr Gehalt lebendig bleibt
in einer radikal erneuerten Welt der Technik und Wissenschaft, der beginnenden pla-
netarischen Einheit der Menschheitsgeschichte? Wir haben das Historische fallen zu
lassen,c zwar als ein Wissen vom Vergangenen, nicht aber als unser eigenes Kleid zu
bewahren. Wir müssen neu in unserer Geschichtlichkeit, d.h. in ewiger Gleichzeitig-
keit des Wahren leben. Die Verwandlung wird aus der Tiefe der Geschichte durch die
Antriebe einzelner Menschen geschehen; sie kann nicht rational erdacht und nicht
planend gemacht werden. Aber es ist in philosophischer Besinnung erlaubt, einen
Raum zu konstruieren, in dem vielleicht diese Verwandlung vor sich gehen wird, und
Linien zu ziehen, die vielleicht Richtungen andeuten, in denen die Verwandlung zu
erwarten ist. Die neuen Gestalten selber können nur durch ursprünglich religiöse Men-
schen mit ihrem Leben und Tun in die Wirklichkeit treten; sie sind nicht vorwegzu-
nehmen. Denn sie vorwegzunehmen würde bedeuten, sie zu schaffen.
Eine Religion der Zukunft sei Illusion, so hört man; alle Kirchen seien im Sterben, das
Christentum tot. Der in radikaler Glaubenslosigkeit sich nicht mehr verstehende
Mensch erwartet in der Tat nichts. In den leeren Raum seiner nihilistischen Anschau-
ung setzt er verzweifelt künstliche Mythen, dämonologische, menschenvergötzende,
wissenschaftsverabsolutierende Inhalte der Unphilosophie. Glaube, welcher Art er auch
sei, spürt dagegen durch Nichtwissen ein Zukünftiges im Gegenwärtigen, wenn nur ge-
genwärtig Menschen ernst sind, wenn nur der Glaubende ernst ist. Kein Glaube ver-
schliesst sich der Wahrheit, dassd - im Gleichnis gesprochen - Gott den Menschen nach

a nach Tatbestand im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. der Verwandlung
b Symbolen, damit im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu Symbolen? Wohin muss sie sich verwan-
deln, damit
c nach lassen, im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. es
d nach dass im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. der Mensch nicht schlechthin verloren gehen kann,
weil
 
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