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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0529
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Grundsätze des Philosophierens

Solange die Philosophie ewige Wahrheit berührt, beflügelt sie ohne Gewalt. Je mehr
sie aber diea Wahrheit in den Dienst zeitlicher Mächte stellt, desto mehr verführt sie
zu unwahrem Stolz, zur Selbsttäuschung in Daseinsinteressen, zu Anarchie der Seele.
Je mehr sie schliesslich Wissenschaft wird und nichts als Wissenschaft sein will, desto
leerer und gleichgültiger wird sie dann als eine Spielerei, die weder Wissenschaft noch
Philosophie ist.
Die unabhängige Philosophie fällt keinem Menschen von selber zu. Sie muss stets
neu erworben werden. Zwar ist sie der Möglichkeit nach jederzeit. Ihre Wahrheit ist
zwar verborgen immer ganz gegenwärtig? Aber sie ist zu ergreifen nur von dem, der sie
aus seinem eigenen Ursprung heraus erblickt. Der erste noch verschwindende Blickc
kann den Einzelnen entzünden. Dann erwächst ihm der Antrieb, zu wissen, was er bis-
her nur fühlt, und wirklich zu werden, was er bisher nur als Möglichkeit ist. Auf die
Entzündung durch Philosophie folgt das Studium der Philosophie.
Das Studium der Philosophie ist dreifach: Praktisch an jedem Tage im inneren Han-
deln, sowohl im alltäglichen Tun wie in den hohen Augenblicken des Entschlusses, im
Verwirklichen; - sachlich im Erfahren der Gehalte, im Lernen des Wissbaren und im
Forschen, durch Studium der Wissenschaften, der Logik, der Methoden und der Syste-
matiken; - historisch durch Aneignung der philosophischen Überlieferung.462 Was in
der Kirche die Autorität ist, ist für den Philosophierenden die Wirklichkeit, die aus der
Geschichte der Philosophie ihn anspricht.
i. Bedeutung der Philosophiegeschichte463
Im Philosophieren haben wir keine kanonischen Bücher[,] wie sie die Religionen be-
sitzen, keine Autorität, der einfach zu folgen wäre, keine Endgiltigkeit der Wahrheit,
die da ist. Aber die Gesamtheit der geschichtlichen Überlieferung des Philosophierens
ist der unumgängliche Weg zum gegenwärtigen Philosophieren, niemand kann von
vorn anfangen. Ob zufällig und zerstreut oder ob bewusst und methodisch, die Über-
lieferung ist Quelle des eigenen Philosophierens. Die Überlieferung ist insofern gleich-
sam die eine umfassende Autorität. Sie ist die mit nie aufhörender Erwartung erblickte
Tiefe der schon gedachten Wahrheit, ist die Unergründlichkeit der wenigen grossen
Werke, ist die mit Ehrfurcht hingenommene Wirklichkeit der grossen Denker.
Das Wesen dieser Autorität ist, dass man ihr nicht eindeutig gehorchen kann. Es
ist die Aufgabe, durch sie in eigener Vergewisserung zu sich selbst zu kommen, in ih-
a die in einer späteren Bearbeitung hs. Vdg. zu ihre
b Zwar ist sie der Möglichkeit nach jederzeit. Ihre Wahrheit ist zwar verborgen immer ganz gegen-
wärtig. in einer späteren Bearbeitung hs. Vdg. zu Zwar ist sie der Möglichkeit nach jederzeit, und ihre
Wahrheit verborgen immer gegenwärtig.
c nach Blick in einer späteren Bearbeitung hs. Einf. auf sie
 
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