Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0535
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
532

Grundsätze des Philosophierens

des Gedankens erreicht wird. Einfall und Aphorismen sind in ihrer Zerstreutheit ohne
den Accent des Wesentlichen, ohne Rangordnung und Struktur eines Ganzen. Dieses
Ganze kann nie unmittelbar da sein. Es entwickelt sich in der Arbeit am Werk, das vor
dem Denker steht. An dem jeweils schon Verwirklichten wird weitergearbeitet. Das
Werk, soweit es schon da ist, wird Anreger und Erwecket weiterer Einfälle.
e. Gegenwart der Sache selbst. - Sind wir im Verstehen ganz dabei, so gehen wir auf
das Endziel aller Interpretation, durch die Worte und Sätze hindurch zur Sache selbst
zu kommen. Durch die historische Erscheinung wollen wir zum unhistorisch Ewigen
gelangen. Wenn wir wesentlich verstehen, ist historische Orientierung im Wissbaren
nur das Medium geschichtlichen Bewusstseins und in diesem vollzieht sich die ewige
Gegenwart des Wahren.
Umgekehrt geschieht es beim historischen Verstehen. Hier wird ein in Lehrstücke
verwandeltes, durch solche Fixation denaturiertes Sachverständnis zu einem Mittel
historischen Verstehens. Historisches Verstehen ist dann in der Tat das Verstehen der
Irrtümer und die historische Beschäftigung mit ihnen wird zu ihrer historischen
Rechtfertigung. Wo das Endziel die historische Einsicht ist, da wird alles neutralisiert
zu Möglichkeiten, die einmal wirklich waren. Wo die historische Einsicht aber nur der
Weg ist, da wird Geschichte zur Erscheinung der Entfaltung des Wahren, das selber
alle Geschichte transcendiert. Historisches Verstehen soll den Betrachter als unbetei-
ligten Zuschauer rechtfertigen. Sachliches Verstehen soll den Beteiligten verantwort-
lich machen für das Gelingen seiner Teilnahme an der in aller Geschichte sprechen-
den Wahrheit.
Das historische Verstehen gleitet leicht ab von seinem eigenen Ziel, indem es un-
eingestanden eigene Tendenzen kritiklos Herr werden lässt; sie bringen die Enge des
Wahrheitsbewusstseins in gewaltsamen Verständnisakten, die sich verkleiden in trü-
gender wissenschaftlicher Erkenntnis. Das sachliche Verstehen dagegen gleitet leicht
ab von seinem Ziel, wenn es über die Realität der historischen Erscheinung hinweg-
sieht und die eigene Meinung dem Vergangenen interpretierend unterlegt. Dann ver-
liert das Vergangene seine Substanz, wird nicht mehr als es selber erblickt. Der Umweg
über die Geschichte ist zu einem Schein geworden, in dem gewaltsame Gegenwärtig-
keit sich rechtfertigt als vermeintlich schon immer gewesen.
f. Aneignende Umdeutung historischer Erscheinungen. - Es ist eine Grunderfah-
rung beim Studium alter Texte, dass uns Inhalte tief ergreifen, die wir doch als solche
zugleich für unrichtig halten. Die Argumentationen über die Unsterblichkeit der Seele
in Platons Phädon sind als Argumentationen hinfällig. Urteile und Urteilszusammen-
hänge begreifen wir als falsch. Und doch meinen wir in der Gesamtbewegung dieses
Denkens einer Wahrheit inne zu werden. Ist das nur ein aesthetisch unverbindlicher
Eindruck oder liegt es in der Natur der Sache, dass philosophische Wahrheit noch in
falsch werdender Gedanklichkeit sich zur Erscheinung bringen kann?
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften