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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0553
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Grundsätze des Philosophierens

hen. Aus dem 17. Jahrhundert und der grossen Welt des Hofes schreiben Larochefou-
cauld und Labruyere, aus dem 18. Jahrhundert Vauvenargues und Chamfort.481
Shaftesbury ist der Philosoph aesthetischer Lebensdisciplin.
Die grosse deutsche Philosophie hat mit einer systematischen Energie und einer
Offenheit für das Tiefste, und für das Ferne gedankliche Durchbildung und Fülle der
Gehalte in einem Masse, dass sie bis heute unerlässliche Grundlage und Erziehung für
alles ernste philosophische Denken ist: Kant, Fichte, Hegel, Schelling.
Kant: der für uns entscheidende Schritt des Seinsbewusstseins, die Genauigkeit im
denkenden Vollzug des Transcendierens, die Erhellung des Seins in seinen Grunddi-
mensionen aus dem Ungenügen unseres Wesens, die Gesinnung des weiten Raums.
Fichte: zum Fanatismus gesteigerte Speculation, gewaltsame Versuche des Unmög-
lichen, genialer Konstrukteur.
Hegel: Beherrschung und allseitige Durcharbeitung der dialektischen Denkformen,
das Innewerden der Gehalte jeder Art im Denken, der Vollzug der umfassendsten
abendländischen geschichtlichen Erinnerung.
Schelling: Unermüdliches Ergrübeln des Fetzten, Aufschluss unheimlichen Ge-
heimnisses, Scheitern im System, Öffnung neuer Bahnen.
Das io. Jahrhundert ist Übergang, Auflösung und Bewusstsein der Auflösung, stoff-
liche Breite, wissenschaftliche Weite. Die Kraft der Philosophie wird bei den lehren-
den Philosophen immer schwächer, verwandelt sich in blasse, willkürliche Systeme
ohne Geltung und in Philosophiegeschichte, die das gesamte historische Material zum
ersten Mal in ganzem Umfang zugänglich macht. Die Kraft der Philosophie selber lebt
in Ausnahmen, die den Zeitgenossen kaum gelten, und in der Wissenschaft.
Die deutsche Professorenphilosophie ist lehrreich, voll Fleiss und Eifer, umfassend,
und lebt doch faktisch nicht mehr aus der Energie des Menschseins, sondern aus der
Universitätswelt bürgerlicher Kultur mit ihrem Bildungswert, ihrem gutwilligen Ernst
und ihren Grenzen. Auch bedeutende Erscheinungen wie Fichte d.J., Lotze u.a. wird
man nur der Belehrung, nicht der Substanz wegen studieren.
Die originalen Philosophen des Zeitalters sind Kierkegaard und Nietzsche. Beide
ohne System, Ausnahmen, Opfer. Sie werden der Katastrophe sich bewusst, sprechen
unerhörte Wahrheit aus, und zeigen keinen Weg. In ihnen dokumentiert sich das Zeit-
alter durch die unerbittlichste Selbstkritik, die jemals in der Menschheitsgeschichte
vollzogen wurde.
Kierkegaard: Formen des inneren Handelns, der Ernst des Gedankens für die per-
sönliche Entscheidung, das Wiederflüssigwerden allen, insbesondere des fixierten He-
gelschen Denkens. Gewaltsame Christlichkeit.
 
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