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Jaspers, Karl; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 3, Band 8,1): Ausgewählte Verlags- und Übersetzerkorrespondenzen — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69893#0059
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LVIII

Einleitung des Herausgebers

lologie« und »die Kumulation historischer Reflexionen« übrig.151 Diese auf Gadamer
gemünzte Äußerung schien Jaspers insofern verallgemeinerbar, als er seit dem Ende
der NS-Diktatur die Bereitschaft, sich dem unbedingten Wahrheitsethos der Wissen-
schaft zu verpflichten, bei seinen Kollegen zunehmend vermisste. Bereits im Septem-
ber 1945 hatte er gegenüber der Schwester geklagt: »Wir, die wir nicht unmittelbar am
Daseinsnotwendigen mitarbeiten, sondern die Universität und Erziehung neu auf-
bauen wollen, haben mit starken, unbewussten Widerständen sogar bei den Colle-
gen zu kämpfen. Man möchte allzugern gleich wieder wie früher sich etablieren und
den alten geistigen Schlendrian fortsetzen.«152 Dieser ungebrochen fortbestehende
»Zunft- und Cliquengeist« war einer - und keineswegs der geringste - der Gründe,
warum Jaspers den Ruf nach Basel angenommen und Heidelberg verlassen hatte.153
So war es weniger Thiels Verhalten als vielmehr Gadamers Reaktion darauf, die Jas-
pers letztlich mobilisierte. Gadamer habe auf die nachträglich eingeschmuggelte Fuß-
note »unphilosophisch«154 reagiert. Da sie lediglich aussprach, was unausgesprochen
schon die Erklärung des Bedauerns enthalten hatte, schuf sie keine neue Situation.
Thiel bekräftigte nur, dass er sich allein von der Form, aber nicht vom Inhalt der Pole-
mik distanzierte, eine Formulierung übrigens, die Jaspers selbst vorgeschlagen hatte,
von Ferdinand Springer aber untersagt worden war, da sie aus dem genannten Grund
überflüssig sei.155 Dass Thiel sich über dieses Verbot hinwegsetzte, fand Jaspers zwar
»durchaus ungehörig«,156 rechtfertigte aber nicht die Drohung gegenüber Thiel und
dem Verlag, die Sache mit Unterstützung »von kollegialer Seite« vor die Öffentlichkeit
zu bringen.157 Im Gegenteil: Gadamers Vorgehen bestätigte nur den gegen ihn erho-
benen Vorwurf. Hier machte sich ein Anspruch von Macht und Einfluss geltend, wo
eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Vorwürfen, publiziert im Studium Gene-
rale, die angemessene Reaktion gewesen wäre. Erst durch diese Drohung sah sich Jas-
pers genötigt, sich auf die Seite Thiels zu schlagen, und er tat es nicht für Thiel selbst,
sondern für die Freiheit der öffentlichen Diskussion in einem Land, das noch wenige
Jahre zuvor diese Freiheit aufs Schärfste unterdrückt hatte und auch jetzt noch nicht
wirklich von ihr ergriffen war. »Ich befinde mich in der Lage, für die Freiheit öffent-
licher Diskussion zugunsten Dr. Thiels einzutreten, auch wenn, was die Geschichte
der Polemik deutscher Philosophieprofessoren seit 150 Jahren zeigt, schlimme Ent-

151 M. Thiel: »Was kann Philosophie heute leisten und was darf man von ihr erwarten?«, 107-108.
152 K. Jaspers an E. Dugend, 26. September 1945, DLA, A: Jaspers.
153 K. Jaspers: »Von Heidelberg nach Basel«, 173.
154 K. Jaspers an H. Götze, 29. Juli 1954, in diesem Band, S. 389.
155 Vgl. H. Götze: »Tatsachenbericht betr. Kontroverse Professor Gadamer/Dr. Thiel, Studium Ge-
nerale«, ebd., 388, sowie K. Jaspers an H. Götze, 29. Juli 1954, ebd., 389.
156 Ebd.
157 Vgl. H. Götze an K. Jaspers, 26. Juli 1954, ebd., 387.
 
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