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Jaspers, Karl; Piper, Klaus; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 3, Band 8,2): Ausgewählte Korrespondenzen mit dem Piper Verlag und Klaus Piper 1942-1968 — Basel: Schwabe Verlag, 2020

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Karl Jaspers - Piper Verlag (1962)

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256 Karl Jaspers an Klaus Piper
Typoskript; DLA, A: Piper, hs. PS, mit dem Stempel Prof. Karl Jaspers Basel Austrasse 126
Beigefügt ist eine Adressenliste für die Verschickung der Exemplare von »Der philosophische Glaube
angesichts der Offenbarung«.
Basel, den 14. X. 1962
Lieber Herr Piper!
Für Ihre beiden Briefe vom 14. Sept, und 10. Oktober danke ich Ihnen herzlich.
Meine Kindheitserinnerungen haben Sie gelesen. Ich habe sie seit 1938 nicht mehr
angesehen. Sie sprechen von der versunkenen Welt, die Ihre Generation schon nicht
mehr gekannt hat. Aber Sie sehen auch die »Konstanz der Unsicherheit der mensch-
lichen Existenz«, sind im Grunde einverstanden mit dem »Abschied von der bishe-
rigen Geschichte«. Wenn Sie sagen, dass durch den Sturz des Alten dem Menschen
neue Chancen eröffnet sind, zu sich selbst zu kommen, so bin ich ganz mit Ihnen. Ich
sehne mich nach jener scheinbaren Sicherheit vor 1914 zurück. Der Preis dafür, wie-
der ernst werden zu können, ist vielleicht mit »Labilität« noch zu gering angesetzt, er
ist die Realität einer noch nie dagewesenen Gefahr. Wir stehen noch in der Phase der
Entscheidungen. Unsere Erfahrungen liegen »in der Mitte der Zeit«, wie Nietzsche
sagt.1350 Wir sind von der Mitte schon weit voraus gelangt in das Unwiderrufliche, das
wir doch noch nicht als solches für endgültig anerkennen wollen. Ob aber Ihre und
meine Auffassung der Gegenwart nicht schon selber im Veralten ist? Ich sehe soviel
Gewohnheit, Zufriedenheit, blosse Sorge und Ängstlichkeit, soviel Blindheit und Ver-
logenheit, dass es mir manchmal schlimmer scheint als 1900. Auf der Stufe einer ver-
wüsteten Bildunga kehrt wieder, was in einer Welt reicher und doch verlogener Bil-
dung schon war.
Es ist schlimm, dass das totalitäre Regime sich des russischen Volkes bemächtigt
hat. Als das bei uns geschah, zeigte sich die Gemeinheit so erschreckend vieler Deut-
scher, wenn auch wohl nicht der Mehrheit. In Russland ist eine Kraft privaten sau-
beren Lebens, die das Regime wie eine Naturgegebenheit duldet. Ich sah vor kurzem
eine russische »Illustrierte« und schämte mich unserer entsprechenden Blätter. Dort
eine sexuell saubere Atmosphäre, eine Aufmachung ohne Sensationen. Herrliche Bil-
der, Freude am Schönen (ein wunderbarer Rembrandt, den ich nicht kannte), an der
Natur im Grossen und im Kleinen. Dem entspricht der Bericht, den man aus Klaus
Mehnert kennt, und die Erzählung eines Vetters von uns, der aus Russland kam.1351 Die
Substanz des Volkes scheint unverwüstlich. Während des Krieges hörte man, die russi-
schen Mädchen seien nicht zu verführen, die französischen so leicht. Aber ein Wandel

a nach Bildung im Typoskript gestr. und Verlogenheit, dass es mir manchmal
 
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