Metadaten

Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0065
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
44 Die Geburt der Tragödie

spekulativen Ausdeutung der griechischen Mythologie bestimmt N.s Methode
in der Tragödienschrift. Sie macht die griechische Mythologie vor allem zur
archetypischen „Symbolik“ von Schopenhauers Philosophemen und Wagners
Musik.
Schon vor Creuzer hatte Hölderlin, ein erklärter Lieblingsautor N.s, Diony-
sos zur mythologischen Zentralfigur einer ganzen Reihe von Gedichten erho-
ben, aus frühromantischem Geist und ebenfalls in kulturphilosophischer und
poetologischer Perspektivierung. N., der in der Entstehungszeit der Tragödien-
schrift, anschließend an Hölderlin, Skizzen zu einem Empedokles-Drama ent-
warf und in der ersten der alsbald folgenden Unzeitgemäßen Betrachtungen
(David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller) Hölderlin nicht nur würdigt,
sondern auch aus einem seiner Gedichte wie selbstverständlich ohne beson-
dere Namensnennung zitiert, dürfte mit dieser „dionysischen“ Dimension von
Hölderlins Dichtung vertraut gewesen sein, auch wenn sie sich nicht direkt als
Quelle fassen läßt.
Ebenso wichtig wie das Mythogramm Dionysos, das am Ende des 20. Kapi-
tels der Tragödienschrift schon die später im Namen des Dionysos propagierte
Lebensphilosophie ankündigt, wurde das aus zahlreichen Quellen gespeiste
konträre Thema: dasjenige einer spätzeitlichen Kultur, die N. als Verfall der
ursprünglichen, „dionysischen“ Lebensenergien interpretiert. Den übergreifen-
den zeitgenössischen Horizont für diese Konzeption und die Heranziehung von
Quellen mit entsprechender Tendenz bildet das seit den Dreißiger Jahren des
19. Jahrhunderts und dann immer mehr bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte
hinein virulente Epigonen-Thema (vgl. den Kommentar zu 75, 25-32). Es durch-
zieht N.s Geburt der Tragödie ebenso wie die anderen Frühschriften; in den
Spätschriften steigert sich diese Diagnose eines spätzeitlich-epigonalen Nieder-
gangs zur Diagnose der Decadence. Ihr zufolge zeugen Kultur und Geschichte
generell sowie die Geschichte der Tragödie speziell von einem fortschreitenden
Verfall. Zahlreiche Werke seit Gibbon und Rousseau hatten die Geschichte
überhaupt als Verfallsprozess interpretiert; für die Geschichte der Tragödie
diente die Darstellung des Aristophanes in seiner Komödie Die Frösche als
älteste und in allen späteren Interpretationen entscheidend fortwirkende
Quelle. Ausdrücklich und nachdrücklich beruft sich N. in der Tragödienschrift
selbst auf diese Quelle, deren Wertungen ihm vor allem in August Wilhelm
Schlegels einflußreichen und lange fortwirkenden Vorlesungen über dramati-
sche Kunst und Literatur wiederbegegneten. Fast ein halbes Jahrhundert nach
dem erstmaligen Erscheinen von A. W. Schlegels Vorlesungen im Jahr 1809
stellt der Verfasser des Artikels über griechische Literatur4 in der auch von N.
herangezogenen Allgemeinen Encyklopädie der Wissenschaften und Künste
von Johann Samuel Erseh und Johann Gottfried Gruber (Bd. 81, Leipzig 1863,
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften