Metadaten

Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0066
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Überblickskommentar: Quellen 45

S. 309) fest, daß die Brüder Schlegel „nach vielen Seiten hin anregend und
belehrend gewirkt“ haben: „Dies gilt besonders von A. W. Schlegel, Vorlesun-
gen über dramatische Kunst und Literatur; man hat ihm nicht mit Unrecht vor-
geworfen, daß er hinter der glatten und gewandten rhetorischen Darstellung
geschickt seine Schwächen verberge, daß sein Urtheil weder tief, noch unbe-
fangen genug sei; aber Thatsache ist, daß Schlegel’s kritische Ansichten
Gemeingut geworden sind und die Meisten, die auf ihn folgten, unter seinem
Einflüsse stehen“. Nicht zuletzt in Wagners Ausführungen zur griechischen
Tragödie fand N. die von Aristophanes ausgehenden Einschätzungen A. W.
Schlegels wieder.
Aristophanes inszenierte in seinen Fröschen einen Wettkampf zwischen
dem ersten der drei großen Tragiker, Aischylos, und dem letzten, Euripides.
Aus einer deutlich konservativen Einstellung und unter dem Eindruck des
gerade in die letzte Lebenszeit des Euripides fallenden, für Athen desaströsen
Ausgangs des Peloponnesischen Krieges, eines historischen Niedergangs also,
stellt Aristophanes das Werk des Aischylos als Zeugnis heroischer Größe und
Kraft (wie es dem Aufstieg Athens zur griechischen Vormacht nach den siegrei-
chen Schlachten der Perserkriege entsprach) und auch als Zeugnis urtümlich-
erhabener Sprachgewalt dar, das Werk des Euripides dagegen als sophistisch
vernünftelndes, auf den Dutzendmenschen und dessen Alltagssprache zuge-
schnittenes Niedergangsprodukt. Im Besonderen begründet Aristophanes sein
karikaturistisches Zerrbild des Euripides mit dessen Infektion durch die Sokra-
tische Philosophie und ihre alles durchdringende Rationalität. Diese Konstella-
tion von Euripides und Sokrates und die sich mit ihr verbindende Behauptung
vom Verfall der Tragödie ist maßgebend für N. in den Kapiteln 11-13 der Geburt
der Tragödie. Zugleich wußte er sich im Einklang mit Wagner, der in der von
Aristophanes ausgehenden Tradition die Tragödie des Aischylos über alles
schätzte, in den Tragödien des Euripides aber den „Verfall der griechischen
Tragödie“ sah, weil in ihnen - das ist noch ein Hauptargument N.s - die „Ver-
standesreflexion“ über das „Gefühl“ gesiegt habe, das in der Musik der Chorlie-
der lebendig gewesen sei (Richard Wagner: Oper und Drama, in: GSD IV, 145).
Wie Wagner begründet N. den Verfall der Tragödie mit der Schwächung des
angeblichen musikalischen Urelements durch den Verstand.
Das Kontrastprogramm zu diesem Niedergangsszenario bot eine traditio-
nell mit alles überragender Autorität ausgestattete Quelle: die Poetik des Aris-
toteles mit ihren Ausführungen zur Tragödie. Direkt und noch öfter indirekt
bezieht sich N. kritisch auf diese für ihn ex negativo wichtige Quelle. In einem
separat überlieferten Fragment lehnt er die Poetik des Aristoteles sogar grund-
sätzlich ab (vgl. den Kommentar zu 104, 25-28), weil er Aristoteles selbst schon
der spätzeitlich-rationalistischen Verfallsphase der griechischen Kultur zurech-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften