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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0072
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Überblickskommentar: Konzeption 51

dienspezifischen Derivation, den bildhaften „Mythos“ daraus abzuleiten. Die
ganze Operation, eine „Geburt der Tragödie“ nicht historisch vorzuführen, son-
dern systematisch zu konstruieren, beruht demnach auf einer analogisieren-
den Übertragung der metaphysischen Theorie Schopenhauers und der daraus
abgeleiteten weiteren Analogisierungen. Von Anfang an fällt denn auch in N.s
Schrift die häufige und charakteristische Verwendung der Worte „analog“ und
„gleichsam“, „Gleichnis“, sowie der Wendungen „in ähnlicher Weise wie“ (25,
6 f.), „symbolisches Analogon“ (27, 33) u.ä. auf.
Die letztlich metaphysische, d. h. vor und über allem Historischen liegende
Konzeption einer „Geburt“, eines „Ursprungs“ der Tragödie hat zur Folge, daß
N. es vermeidet, eine geschichtliche Entwicklung der Tragödie in ihrer histo-
risch konkreten Form darzustellen, obwohl gerade dafür klare und ihm auch
bekannte Anhaltspunkte vorhanden sind: zuerst das Hervortreten eines einzel-
nen Akteurs (des „Protagonisten“) aus dem Chor, dann die Entstehung des
Dialogs, nachdem Aischylos einen zweiten, Sophokles schließlich einen dritten
Schauspieler auf die Bühne gebracht hatte und nachdem mit solchen handeln-
den Personen und ihren Charakteren eine äußerlich schlüssige und psycholo-
gisch motivierte Handlung zustandegekommen war. N. hingegen interessiert
sich nur für die Musik, alles andere ist für ihn schon eine Abweichung, ja
ein Abfall vom „Ursprung“, den er auf fragwürdige Weise mit dem „Wesen“
gleichsetzt. Schon die historische Ausformung der Tragödie erscheint ihm als
Niedergang, weil die Entwicklung und Expansion der Handlung sowie die ent-
sprechende Ausprofilierung der Akteure und ihrer Schicksale notwendiger-
weise den Anteil des Chores an der griechischen Tragödie schmälerten. Auch
versucht er die „Helden“, also die Hauptakteure der Handlung - ähnlich wie
schon das im Mythos vorliegende Handlungsmuster - auf den Urgrund der
Musik als generatives Substrat zurückzuführen und damit ihrer Eigenwertigkeit
zugunsten der Musik zu berauben. Dafür bedient er sich in einem ersten Schritt
der Äquivokation von Musik und „Dionysischem“. In einem zweiten Schritt
behauptet er, daß „die griechische Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die
Leiden des Dionysus [hier schlägt er die Brücke zu Schopenhauers „Willen“
als Grund alles vom „Leiden“ bestimmten Daseins] zum Gegenstand hatte und
dass der längere Zeit hindurch einzig vorhandene Bühnenheld eben Dionysus
war“; er fügt sogar an, es dürfe „mit der gleichen Sicherheit“ behauptet wer-
den, „dass niemals bis auf Euripides Dionysus aufgehört hat, der tragische
Held zu sein, sondern dass alle die berühmten Figuren der griechischen Bühne
Prometheus, Oedipus u. s. w. nur Masken jenes ursprünglichen Helden Diony-
sus sind“ (71, 20-24).
Es braucht hier nicht erörtert zu werden (vgl. dazu den Einzelkommentar),
daß die angeblich „unanfechtbare Ueberlieferung“ (71, 16) und die „mit der
 
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