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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0073
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52 Die Geburt der Tragödie

gleichen Sicherheit“ aufgestellte These lediglich eine spekulative Behauptung
ist. Es kommt auf N.s Intention an: Wie er schon die Handlung der Tragödie
und den Mythos auf die „dionysische“ Musik als generatives Substrat zurück-
führt, so führt er auch die „Helden“ als Akteure der Handlung auf Dionysos
zurück, denn als allegorisches Mythogramm der „dionysischen“ Musik ist Dio-
nysos letztlich wiederum mit dieser eins. Demnach kommt nur der - nach
Schopenhauers metaphysischen Kategorien verstandenen - Musik die „diony-
sische Wahrheit“ (73, 26 f.) des apriorisch Eigentlichen4 zu. Alles andere ist
sekundäre Hypostase, die aus diesem Eigentlichen hervorgeht und immer auf
dieses zurückweist. Insofern kann alles andere nur „Maske“, „Vehikel“ und
„Symbol“ sein. Am deutlichsten drückt sich dies in folgendem Satz aus, in dem
N. der personifizierten „dionysischen Wahrheit“ Subjektstatus und Verfügungs-
macht verleiht: „Die dionysische Wahrheit übernimmt das gesammte Bereich
des Mythus als Symbolik ihrer Erkenntnisse“; darauf folgt alsbald die Fest-
stellung, daß der „Mythus zum Vehikel dionysischer Weisheit“ geworden sei
(73, 26-33). Ebenso wie die „dionysische Wahrheit“ (zu der nicht „Erkennt-
nisse“ hinführen, sondern die ihrerseits zu Erkenntnissen führt, also dogma-
tisch ist) ist auch die „dionysische Weisheit“ N.s eigene Hypothese. Deren
Gewaltsamkeit kommt gerade im Kontext dieser Ausführungen durch eine aus-
geprägte Gewaltmetaphorik zum Ausdruck. „Die mächtige Faust des dionysi-
schen Künstlers“ ist es, die alles „in den Dienst der neuen Gottheit [des Diony-
sos] zwingt“, und analog wirkt „die heraklesmässige Kraft der Musik“ (73, 25 f.;
73, 33 f.).
Die Herleitung aller Bereiche und Elemente, in denen sich das Geschehen
der Tragödie handlungsrelevant und gestalthaft manifestiert, aus der metaphy-
sischen „Kraft“ der Musik hat eine doppelte Folge: Erstens wird alles im Ver-
hältnis zur Musik uneigentlich und höchstens zum Medium, zweitens aber
kann die gesamte Geschichte der Tragödie, insofern sie sich von ihrem leitmoti-
visch als allein wesenhaft interpretierten „Ursprung“ notwendigerweise immer
mehr entfernt, nur noch eine Niedergangsgeschichte sein. Damit konterkariert
N. die berühmte Darstellung des Aristoteles über Ursprung und Entwicklung
der Tragödie (Poetik 1449a). Aristoteles beschreibt die geschichtliche Entwick-
lung der Tragödie aus Vorläuferhaften Improvisationen zu immer größerer Voll-
kommenheit. N. dagegen schreibt eine Verfallsgeschichte. Zwar ergibt sich
seine Wertung in systematischer Hinsicht aus dem schon dargestellten dogma-
tisch-metaphysischen Ansatz, mit dem er den „Ursprung“ absolut setzt; grun-
diert aber ist sie vom zeittypischen Gefühl eines kulturellen Niedergangs. Eine
Leitvorstellung war schon seit Jahrzehnten das „Epigonentum“. Um diesen
Zentralbegriff bildete sich für N. ein ganzes Feld analoger Vorstellungen:
„Nachkomme“, „Spätling“ und verschärfend: „Niedergang“, „Verfall“, „Deca-
 
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