Metadaten

Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0074
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Überblickskommentar: Konzeption 53

dence“. Literarische wie essayistische Zeitdiagnosen waren davon übervoll
(hierzu der ausführliche Kommentar zu 75, 25-32). N. steht in dieser Zeitströ-
mung. Nicht nur die Tragödienschrift beschwört immer wieder das spätzeitli-
che Epigonentum; auch die anderen Frühschriften, unter ihnen besonders die
zweite der Unzeitgemäßen Betrachtungen: Vom Nutzen und Nachtheil der Histo-
rie für das Leben, zeugen geradezu von einer Epigonen- und Verfallsobsession.
Und dies ist nur ein Vorspiel zu der sich im Spätwerk zum omnipräsenten
Bedrohungs-Szenario auswachsenden Decadence-Diagnose. Von Anfang an
gerät Dionysos samt der Wunschvorstellung eines „dionysischen Lebens“ (132,
11) zur Gegenprojektion. Allerdings wird sie noch verunklärt durch Schopen-
hauers Leidensmetaphysik und den von ihr ausgehenden ,tragischen4 Pessimis-
mus. Wie N. generell seine auf die eigene Zeit bezogene Kulturkritik und Kultur-
psychologie auf die antike Tragödie und sogar auf die antike Philosophie
zurückprojiziert, so auch das aktuelle Spätzeit-Syndrom. In der ungefähr
gleichzeitig mit der Tragödienschrift entstandenen Abhandlung Die Philosophie
im tragischen Zeitalter der Griechen bezeichnet er alle Philosophen nach den
Vorsokratikern, einschließlich Platon, als „Epigonen“ (KSA 1, 810, 4) - einen
Ansatzpunkt dafür fand er in der Metaphysik des Aristoteles (987 a 29).
In der Geburt der Tragödie mutiert mit Ausnahme ihrer zum „Ursprung“
verklärten, kaum fassbaren Vorgeschichte fast die gesamte Entwicklung der
Tragödie zu einem Prozess des Niedergangs. Den noch weitgehend archaischen
Aischylos, für den Wagner eine Vorliebe hatte, versucht N. zu salvieren, obwohl
es gerade Aischylos war, der durch die Einführung eines zweiten Schauspielers
den entscheidenden Schritt zu der von N. beklagten Verringerung der Chorpar-
tien und zur Expansion der Handlung tat. Mit großer Bestimmtheit sagt Aristo-
teles in seiner Poetik (1449 a 15-18): „Aischylos hat als erster die Zahl der
Schauspieler von einem auf zwei gebracht, den Anteil des Chors verringert und
den Dialog zur Hauptsache gemacht“. Durch den nun erst möglichen Dialog
zwischen verschiedenen Akteuren trat nicht nur die Handlung, sondern vor
allem auch das Wort in den Vordergrund. Damit wurden diejenigen Elemente
der Tragödie dominant, die N. eigentlich als Niedergangsphänomene, weil als
Entfernung vom musikalischen „Ursprung“ wertete.
Schon Sophokles rückt als Verfallsphänomen in N.s Niedergangsperspek-
tive (95, 10-22), und geradezu zum Repräsentanten des historischen Nieder-
gangs macht er Euripides. Er greift die von Aristophanes in seiner Komödie
Die Frösche inszenierte Niedergangsgeschichte der griechischen Tragödie auf,
in der Aischylos noch archaische Größe repräsentiert, während Euripides und
der mit ihm eng verbundene Sokrates als Exponenten eines spätzeitlichen Ver-
falls erscheinen. N. reflektiert allerdings nicht den historischen Horizont, in
dem die polemisch karikierende Darstellung des Aristophanes steht: Zwischen
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften