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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0079
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58 Die Geburt der Tragödie

In der Tragödienschrift ist noch nicht (wie in den Spätschriften) Wagner
die siegreiche Sache, die er angreift, sondern Sokrates, die philosophische Leit-
figur für Jahrtausende. Auch damit wollte er nicht die „Person“ Sokrates tref-
fen, sondern einen paradigmatischen Typus und eine kulturelle Tendenz,
gegen die er in seiner eigenen Zeit kämpfte. Allerdings verwendet N. das Etikett
„Sokratismus“ auch in einem sehr viel konkreteren kulturkämpferischen Sinn.
Es dient ihm wie manches andere dazu, antisemitisch kodierte Signale auszu-
senden, insbesondere gegen die zeitgenössische Presse. Er wollte Wagner, der
das Pamphlet Das Judentum in der Musik verfasst hatte, und der Antisemitin
Cosima sein Einvernehmen auch auf diesem Feld zu verstehen geben. Cosima
allerdings warnte ihren jungen Verehrer vor den Folgen zu großer Direktheit
und empfahl ihm, in dieser Art von „Kampf“ Vorsicht walten zu lassen. In der
Vorstufe zu der Abhandlung Socrates und die Tragödie, die ihrerseits eine Vor-
stufe zu GT bildet, wendet sich N. exemplarisch gegen denjenigen, „der dem
Sokratismus unserer Tage verfallen [ist], der freilich weder Märtyrer zu erzeu-
gen vermag, noch die Sprache des weisesten Hellenen redet, der sich zwar
nicht berühmt, nichts zu wissen, aber in Wahrheit doch nichts weiß. Dieser
Sokratismus ist die jüdische Presse: ich sage kein Wort mehr“ (KSA 14, 101).
N. ersetzte das Wort „jüdische“ später durch „heutige“ [Presse] und verzichtete
schließlich auf den ganzen Passus. Cosima Wagner hatte ihm am 5. Februar
1870 geschrieben: „Nun habe ich aber eine Bitte an Sie [...] Nennen Sie die
Juden nicht, und namentlich nicht en passant; später wenn Sie den grauen-
haften Kampf aufnehmen wollen, in Gottes Namen, aber von vornherein nicht,
damit bei Ihrem Wege nicht auch alles Confusion und Durcheinander wird“
(KGB II 2, Nr. 72, S. 140). Wie direkt und sogar vulgär der Antisemitismus
des jungen N. war, geht aus seinen Briefen hervor (hierzu der ausführliche
Kommentar zu 68, 34-69, 8 mit den einschlägigen Briefstellen). N.s markan-
teste - und ebenfalls unpublizierte - antisemitische Schrift entstand im
Zusammenhang mit GT: die in den Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen
Büchern enthaltene Schrift Der griechische Staat (KSA 1, 764-776; vgl. hierzu
NK 52, 20 f.). Er schenkte sie mit den anderen ,Vorreden4 Cosima Wagner zu
Weihnachten 1872.
Abgesehen von solchen Ausuferungen führt die Prinzipiengebundenheit
und die bis zur Ausmalung von Kampf-Szenarien getriebene Radikalisierung
der Kulturkritik in eine grundsätzliche Geschichtsfeindschaft. Sie geht weit
über die Kritik am Historismus des 19. Jahrhunderts hinaus. Schon in N.s Dar-
stellung der griechischen Tragödie manifestiert sie sich: Nach der im Dunkel
bleibenden „Geburt“ aus einer ihrerseits zum Absolutum erklärten „Musik“
manifestiert sich ihm ja die historische Wirklichkeit der griechischen Tragödie
im Ganzen wesentlich als Abirrung und Niedergang, längst vor Euripides, den
 
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