Metadaten

Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0084
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Überblickskommentar: Stellenwert 63

sische, nach einem längeren Intervall, das mit Menschliches, Allzumenschliches
beginnt, in den späten Schriften wieder zentral. Das Apollinische hingegen
verschwindet. Das Dionysische hatte N. in GT primär im Zusammenhang mit
der „Geburt“ der griechischen Tragödie aus dem Dionysoskult eingeführt. Auf
dem Hintergrund einer schon in der Antike kategorial ausgeformten und später
romantisierten Dionysosmythologie hatte er dem Dionysischen eine grundsätz-
liche Bedeutung verliehen und es am Ende des 20. Kapitels bereits mit der
Vorstellung des „Lebens“ verbunden. In den Spätschriften erhebt N. Dionysos
und das Dionysische zu einem „Symbol“ höchster Lebensbejahung und
Lebens-Intensität. Er konzipiert das Dionysische als Gegenmacht gegen die
Decadence. Auch hier gibt es eine grundlegende Kontinuität, denn schon in
GT hatte ja N. immer wieder von „Verfall“, „Niedergang“ und „Epigonen“
gesprochen. (Vgl. den Überblickskommentar S. 52 f. und den ausführlichen Ein-
zelkommentar zu 75, 25-32, der auch die zeitgenössische Leitidee des Epigo-
nentums genauer dokumentiert.) Im späteren Werk radikalisierte sich die Vor-
stellung des Epigonentums zu derjenigen der Decadence.
Zunächst aber, in der auf GT und die Unzeitgemäßen Betrachtungen folgen-
den Schrift Menschliches, Allzumenschliches, löst sich N. von allen Grund-
Orientierungen der Erstlingsschrift ab. Schon der Titel-Zusatz des Ende April
1878 erschienenen 1. Bandes von Menschliches, Allzumenschliches verrät die
prinzipielle Gegenwendung gegen das Bisherige. Er lautet: Ein Buch für freie
Geister. Dem Andenken Voltaire’s geweiht zur Gedächtniss-Feier seines Todesta-
ges, den 30. März 1878. Während N. in GT noch der romantischen deutschen
Tradition folgte, die bei Wagner einen späten Höhepunkt erreichte, und ent-
schieden aufklärungsfeindlich wertete, wendet er sich nun dem prototypischen
Aufklärer Voltaire zu. Auch in dem der Erstausgabe von 1878 beigegebenen
Vorwort („An Stelle einer Vorrede“) verrät sich die neue Grundtendenz, die
dem fundamental irrationalistischen Ansatz von GT programmatisch wider-
spricht. N. zitiert „Aus dem Lateinischen des Cartesius“, und im Zentrum
dieses Zitats steht ein Bekenntnis zur Rationalität - „meine Vernunft auszubil-
den“, lautet die Losung (MA, KSA 2, 11, 9f.). In welcher grundsätzlichen Weise
N. rückblickend MA als intellektuelle Loslösung von der geistigen Sphäre ver-
standen wissen wollte, aus der die Tragödienschrift hervorgegangen war, zei-
gen seine Ausführungen in der 1886 verfaßten Vorrede zu MA I. Tatsächlich
löst er sich in MA aus den Bindungen, von denen GT noch durchgehend zeugt:
aus der Bindung an Schopenhauers philosophische Hauptvorstellungen, an
Wagners Musik-Ideologie, an „Metaphysik“, an den Genie-Glauben, an die zu
religiös-metaphysischer Höhe erhobene „Kunst“, an das „Tiefe“ und „Erha-
bene“. In der klarsichtigen Selbstanalyse der späteren Vorrede zu MA rechnet
N. all dies einem jugendlichen Verehrungs- und Bindungsbedürfnis zu, das er
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften