Metadaten

Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0091
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
70 Die Geburt der Tragödie

tionen zeugende, ist N.s Moralkritik „jenseits von Gut und Böse“. Sie zeichnet
sich mit einem ersten Ansatz in GT ab, gewinnt deutlichere Konturen in MA,
setzt sich in der Morgenröthe (Untertitel: Gedanken über die moralischen Vorur-
theile) entschieden fort und wird schließlich zum großen Thema in den Schrif-
ten Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral. In GT übt N.
diese in ihrem Kern antichristliche Moralkritik noch unter dem Eindruck einer
humanistischen, insbesondere von Goethe ausgebildeten Tradition, wenn er
schreibt: „Wer, mit einer anderen [der christlichen] Religion im Herzen an diese
Olympier [die griechischen Götter, die der Mythologie zufolge auf dem Olymp
wohnen] herantritt und nun nach sittlicher Höhe, ja Heiligkeit, nach unleibli-
cher Vergeistigung, nach erbarmungsvollen Liebesblicken bei ihnen sucht
[nach christlichen Werten], der wird unmuthig und enttäuscht ihnen bald den
Rücken kehren müssen. Hier erinnert nichts an Askese, Geistigkeit und Pflicht:
hier redet nur ein üppiges, ja triumphirendes Dasein zu uns, in dem alles
Vorhandene vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut oder böse ist“ (GT 3; KSA 1,
34, 28-35, 3). Die Schlußwendung „gleichviel ob es gut oder böse ist“ deutet
schon auf eine Konzeption „jenseits von gut und böse“ voraus.
In MA I transformiert N. die hier noch auf die Opposition von heidnischer
Antike und Christentum bezogene Diagnose in eine bereits ,genealogische4
Herkunftsgeschichte der Moral. Erst sie liefert nun ein Erklärungsmuster für
die Vorstellungen von Gut und Böse, und erst diese Genealogie der Moral, die
N. hier im Wesentlichen bereits lange vor der Spätschrift Zur Genealogie der
Moral entwirft, löst die scheinbar zeitlos gültigen Wertungen „gut“ und „böse“
aus ihrer bisherigen Verankerung im Absoluten. Sie relativiert diese Wertungen
soziologisch und psychologisch. Der entscheidende Aphorismus lautet (MA I,
Nr. 45): „Doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse. - Der Begriff
gut und böse hat eine doppelte Vorgeschichte: nämlich einmal in der Seele
der herrschenden Stämme und Kasten. Wer die Macht zu vergelten hat, Gutes
mit Gutem, Böses mit Bösem, und auch wirklich Vergeltung übt, also dankbar
und rachsüchtig ist, der wird gut genannt; wer unmächtig ist und nicht vergel-
ten kann, gilt als schlecht. [...] Sodann in der Seele der Unterdrückten,
Machtlosen [...] Unsere jetzige Sittlichkeit ist auf dem Boden der herrschen-
den Stämme und Kasten aufgewachsen“ (KSA 2, 67, 4-68, 10).
N. selbst hat in der 1887, also zehn Jahre nach dem ersten Teil von MA
geschriebenen ,Vorrede4 zur Genealogie der Moral diese späte Schrift als radi-
kalere Fortführung und als Ausfaltung der soeben zitierten Partie charakteri-
siert. „Meine Gedanken über die Herkunft unserer moralischen Vorurtheile“,
so schreibt er 1887, „haben ihren ersten, sparsamen und vorläufigen Ausdruck
in jener Aphorismen-Sammlung erhalten, die den Titel trägt ,Menschliches,
Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister4, und deren Niederschrift in Sor-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften