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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0095
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74 Die Geburt der Tragödie

einem wissenschaftlichen Blatte sich für mein Buch erklärte“ (286, 16-20).
N.s akademischer Lehrer Friedrich Ritschi, der sich für ihn in Basel mit einer
Empfehlung so nachdrücklich eingesetzt hatte, daß der junge Gelehrte gegen
alle akademischen Gepflogenheiten unpromoviert und unhabilitiert aufgrund
der wissenschaftlichen Autorität Ritschis den Ruf nach Basel erhielt, reagierte
auf die Zusendung der Tragödienschrift am 14. Februar 1872 mit einem Brief,
der bei aller freundlichen Höflichkeit doch nicht kritischer und enttäuschter
sein konnte, und dies aus triftigen Gründen. Dieses Zeugnis verdient es, aus-
führlich zitiert zu werden:
Wenn ich nun aber, trotz Ihres Wunsches, zu einer eingehenden Besprechung Ihrer
Schrift, die für Sie irgend einen Werth haben könnte, mich auch jetzt noch außer Stande
fühle und wohl auch weiterhin außer Stande fühlen werde, so müssen Sie bedenken, daß
ich zu alt bin, um mich noch nach ganz neuen Lebens- und Geisteswegen umzuschauen.
Meiner ganzen Natur nach gehöre ich, was die Hauptsache ist, der historischen Rich-
tung und historischen Betrachtung der menschlichen Dinge so entschieden an, daß mir
nie die Erlösung der Welt in einem oder dem andern philosophischen System gefunden
zu sein schien; daß ich auch niemals das natürliche Abblühen einer Epoche oder Erschei-
nung mit .Selbstmord“ bezeichnen kann [wie N. in seinem Euripides-Kapitel]; daß ich in
der Individualisirung des Lebens keinen Rückschritt zu erkennen, und nicht zu glauben
vermag, daß die geistigen Lebensformen und -potenzen eines von Natur und durch
geschichtliche Entwickelung selten begabten, gewissermaßen privilegirten Volkes absolut
maßgebend für alle Völker und Zeiten seien - so wenig wie eine Religion für die ver-
schiedenen Völkerindividualitäten ausreicht, ausgereicht hat und je ausreichen wird. -
Sie können dem „Alexandriner“ und Gelehrten unmöglich zumuthen, daß er die
Erkenntniß verurtheile und nur in der Kunst die weltumgestaltende, die erlösende
und befreiende Kraft erblicke. Die Welt ist Jedem ein Anderes: und da wir so wenig, wie
die in Blätter und Blüthen sich individualisirende Pflanze in ihre Wurzel zurückkehren
kann, unsere .Individuation“ überwinden können, so wird sich in der großen Lebensöko-
nomie auch jedes Volk seinen Anlagen und seiner besondern Mission gemäß ausleben
müssen.
Das sind so einige allgemeine Gedanken, wie sie mir die flüchtige Durchsicht Ihrer Schrift
eingegeben hat. Ich sage .Durchsicht“, weil ich freilich bei meinen 65 Jahren nicht die
Zeit und die Kräfte mehr habe, um die nothwendige Führerin Ihrer Entwickelungen, die
Schopenhauersche Philosophie, zu studiren, und mir deshalb auch kein Urtheil darüber
erlaube, ob ich Ihre Intentionen überall recht verstanden habe. Wäre mir Philosophie
geläufiger, so würde ich mich ungestörter an den mannigfachen schönen und tiefsinnigen
Gedanken und Gedankenvisionen erfreut haben, die mir nun wohl manchmal durch
eigene Schuld unvermittelt geblieben sind. Ist es mir doch in jüngeren Jahren schon ähn-
lich ergangen mit der Lectüre Schellingischer Ideenentwickelung, um von den speculati-
ven Phantasien des tiefsinnigen ,Magus des Nordens“ [Hamanns] gar nicht zu reden.
Ob sich Ihre Anschauungen als neue Erziehungsfundamente verwerthen lassen, - ob
nicht die große Masse unserer Jugend auf solchem Wege nur zu einer unreifen Mißach-
tung der Wissenschaft gelangen würde, ohne dafür eine gesteigerte Empfindung für die
Kunst einzutauschen, - ob wir nicht dadurch, anstatt Poesie zu verbreiten, vielmehr
Gefahr liefen, einem allseitigen Dilettantismus Thür und Thor zu öffnen das sind
 
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