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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0111
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90 Die Geburt der Tragödie

die bewiesenen Urtheile, noch ihre Beweise; sondern jene aus der Anschauung
unmittelbar geschöpften und auf sie, statt alles Beweises, gegründeten Urtheile
sind in der Wissenschaft das, was die Sonne im Weltgebäude: denn von ihnen
geht alles Licht aus, von welchem erleuchtet die anderen wieder leuchten“
(Frauenstädt, Bd. 2, S. 76 f.). Weiter konstatiert Schopenhauer (zu Beginn von
§ 15), „daß die Anschauung die erste Quelle aller Evidenz, und die unmittel-
bare oder vermittelte Beziehung auf sie allein absolute Wahrheit ist, daß ferner
der nächste Weg zu dieser stets der sicherste ist, da jede Vermittelung durch
Begriffe vielen Täuschungen aussetzt“ (S. 82). N.s Gegenüberstellung von „logi-
scher Einsicht“ und „unmittelbarer Sicherheit der Anschauung“ basiert im
Grundsätzlichen auf Schopenhauers Darlegungen in der Welt als Wille und
Vorstellung II, Erstes Buch, Kapitel 7: ,Vom Verhältniß der anschauenden zur
abstrakten Erkenntniß4. Ringkompositorisch kommt N. im letzten Kapitel noch-
mals auf den programmatischen Beginn zurück, nunmehr mit dem Begriff der
„Intuition“. Ihr schreibt er wiederum Sicherheit zu: „Dass diese Wirkung aber
nöthig sei, dies würde Jeder am sichersten, durch Intuition, nachempfinden“
(155, 24 f.).
Von programmatischer Bedeutung für die gesamte Tragödienschrift ist die
gezielt am Beginn stehende Berufung auf die „unmittelbare Sicherheit der
Anschauung“ (= Intuition) und die Absetzung von der „logischen Einsicht“
insofern, als sich N. in seinem Erstlingswerk gegen das rationale „Wissen“, das
„bewusste Erkennen“ und die „Logik“ wendet, am deutlichsten in den Kapiteln
12-15. Darin wertet er Euripides und Sokrates als Vertreter solcher Rationalität
ab. Beide sind für ihn Symbolfiguren, mit denen er stellvertretend auf die
moderne Wissenskultur und die wissenschaftliche Rationalität zielt, um für
das „Unbewußte“, den „Instinct“ und eine im Prärationalen verankerte diony-
sische „Musik“ (letztlich diejenige Wagners) als Erneuerungsgrund der Kultur
zu plädieren. Später, im Zuge auch anderer Selbstrevisionen, distanzierte sich
N. von der in GT noch programmatisch verkündeten „unmittelbaren Sicherheit
der Anschauung“ und von der „Intuition“ wie überhaupt von allem Unmittel-
baren4 auch des Denkens. Vgl. JGB 16. Zunächst allerdings, in seiner bald nach
der Tragödienschrift entworfenen Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne, entfaltet N. sein im ersten Abschnitt von GT für die
Intuition und gegen „logisches“ Denken sowie gegen die „Begriffe“ (25, 11)
gerichtetes Plädoyer systematisch, um schließlich den „intuitiven Menschen“
(KSA 1, 889, 6-31) gegenüber dem „vernünftigen Menschen“ aufzuwerten. Er
wendet sich hier gegen die (Schein-)Dignität der „Begriffe“, um sie als erstarrte
und konventionalisierte Metaphern in Frage zu stellen, die nicht die „Wahr-
heit“ adäquat zu erfassen vermögen (KSA 1, 879, 30-886,14). Dann setzt er den
als insuffizient dargestellten „Begriffen“ und „Abstractionen“ die „Intuitionen“
 
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