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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0123
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102 Die Geburt der Tragödie

26, 1 f. und in dieser Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische
Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen.] „Dionysisch“ ist dieses Kunstwerk
nicht nur, weil es aus dem Dionysoskult hervorging, sondern auch weil sein
,dionysisches4 Urelement - vermeintlich - die ihrem Wesen nach amimetische,
durch den Chor repräsentierte „Musik“ ist; „apollinisch“ erscheint es insofern,
als es eine anschauliche, auf Mimesis beruhende Handlung bietet, die durch
Schauspieler gestalthaft vorgeführt und im dramatischen Dialog zur Sprache
wird. Mit der Vorstellung von der „Paarung“ und vom Erzeugen führt dieser
Passus die physiologische und biologische Metaphorik fort, die schon am
Anfang von GT mit der „Generation“ und der ihr zugrunde liegenden „Zweiheit
der Geschlechter“ ins Spiel kommt, sich dann in der Rede von den „Trieben“
(25, 18) und den „Geburten“ (25, 19 f.) fortsetzt und im Folgenden durch die
Heranziehung von „physiologischen“ (26, 5) Erscheinungen noch weitergeführt
wird. Mit diesen biologischen und physiologischen Konnotationen selbst dort,
wo es um Kunst und Musik geht, nimmt N. - wie auch Wagner (vgl. die Belege
zu dessen Geburts-Metaphorik im Kommentar zu 49, 6f.) - eine markante
Eigenart Schopenhauers auf, der trotz mancher Nachwirkungen des idealisti-
schen Denkens eine antiidealistische Philosophie des Leibes4 entwickelte. N.
interessierte sich während der Entstehungszeit von GT auch allgemeiner für
Physiologie: Am 9.11.1870 entlieh er aus der Universitätsbibliothek Basel das
Werk von Otto Funke: Lehrbuch der Physiologie, 2 Bde, Leipzig 1855-1857.
26, 3-5 denken wir sie uns zunächst als die getrennten Kunstwelten des Trau-
mes und des Rausches] Indem N. sofort anschließend betont, es handle
sich um „physiologische Erscheinungen“, folgt er wiederum Schopenhauer, der
eine Vorliebe für Erörterungen des „Traumes“ hatte, am ausführlichsten in den
Parerga und Paralipomena I, Frauenstädt, Bd. 5, S. 244-255. Darin richtet er
gerade auf die physiologischen Bedingungen des Träumens große Aufmerk-
samkeit. Den Traum bezeichnet Schopenhauer zunächst als „eine ganz eigen-
thümliche Funktion unsers Gehirns“ (S. 245), um dann ausführlich darzulegen,
daß alles, was im Traum stattfindet, „Operationen“ im Gehirn seien, die „unter
der Leitung und Kontrole [sic] des plastischen Nervensystems, also der sämmt-
lichen großen Ganglien, oder Nervenknoten“ stehen (S. 249). Daß N. trotz sei-
nes Bekenntnisses zur „physiologischen“ Erklärung von den „Kunstwelten“ des
Traumes und des Rausches spricht, zeugt von dem Versuch, die „Kunst“ mit
der naturalen, physischen Sphäre zu verbinden, obwohl er im Vorwort an
Richard Wagner die „Kunst“ als die höchste Aufgabe und „eigentlich metaphy-
sische Thätigkeit dieses Lebens“ (24, 15) bezeichnet. Den Glauben an den
„Rausch“, der sich mit dem Weingott Dionysos verbindet, dem Gott des Rau-
sches und der Ekstase, hinterfragt N. später psychologisch in einem Aphoris-
mus der Morgenröthe (M 50, KSA 3, 54, 22-55, 24):
 
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