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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0127
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106 Die Geburt der Tragödie

wenn wir die Gestalt oder die Gruppe oder das Bild deutlich vor uns sehen,
wenn er uns jenen traumhaften Zustand mittheilt, in dem er selbst zuerst jene
Vorstellungen erzeugte. Die Aufforderung des Epos zum plastischen Schaf-
fen beweist, wie absolut verschieden die Lyrik vom Epos ist, da jene niemals
das Formen von Bildern als Ziel hat“.
Das Träumen und das Schauen von Traumwelten als schöpferischen
Zustand insbesondere des Dichters kennt schon die Antike (vgl. NK 26, 11 f);
erst die Romantik aber macht daraus ein großes Thema. Vor allem betont sie
damit das schöpferische Potential des Unbewußten. Dies ist noch ein Grundzug
der Tragödienschrift wie der theoretischen Schriften Wagners, in denen er
romantische Vorstellungen fortführt. In den romantischen Dichtungen des
Novalis, besonders in seinem Roman Heinrich von Ofterdingen, bei Tieck, Jean
Paul, E.T.A. Hoffmann, Brentano und Eichendorff spielen Träume eine wichtige
Rolle. Vor allem Jean Paul inspirierte mit einer Fülle von literarischen Träumen
den romantischen Traumkult. In seiner Abhandlung Über die natürliche Magie
der Einbildungskraft (Werke, hg. von Norbert Miller, Bd. 4, München 1962,
S. 195-205) verbindet er mit dem Traum die schöpferische Phantasie. „Der
Traum ist das Tempe-Tal [eine paradiesische griechische Landschaft] und Mut-
terland der Phantasie“, heißt es darin. In seinem Roman Siebenkäs steht der
nihilistische Traum Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein
Gott sei - ein Angsttraum auf dem Kirchhof unter lauter Toten, den N. später
in sein Diktum „Gott ist tot“ ummünzen wird. Darauf folgt ein ,Traum im
Traum4 (Bd. 2: Siebenkäs, Flegeljahre, hg. von Gustav Lohmann, München 1959,
S. 266-276). In den Flegeljahren, Jean Pauls reifstem Werk, kostet der Dichter
Walt seine poetisch-weltferne Genialität in allen Spielarten aus: als „Vorträu-
men“, „Nachträumen“ und „Austräumen“, und er träumt einen großen Schluß-
traum.
Romantische Psychologen wie Gotthilf Heinrich Schubert und Carl Gustav
Carus zeigten ebenfalls ein besonderes Interesse für den Traum. Schubert
(1780-1860), der von der Naturphilosophie und der Theosophie herkam und
auf E.T.A. Hoffmann stark einwirkte, schrieb neben seinen Ansichten von der
Nachtseite der Naturwissenschaft (1808) auch Die Symbolik des Traumes
(1814) - ein Werk, in dem Traumphänomene als sinnträchtige „Hieroglyphen“
verstanden werden, als Bildersprache, der jenseits der Verstandeserkenntnis
und auch der Wörtersprache eine allen Menschen gemeinsame, unbewußte
Wahrheit zukommt. Friedrich Schleiermacher wiederum nahm ein vorindividu-
elles und unbewußtes „Gesammtleben“ an, das sich im Traum offenbare: „Die
Vorstellungen“, so folgert er, „haben also keine Wahrheit für den einzelnen
sondern nur für das Gesammtleben, es sind Bilder, die dem Träumenden aus
diesem einfallen, und indem das Urtheil fehlt, trägt er sie auf sich selbst über.
 
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