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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0144
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Stellenkommentar GT 1, KSA 1, S. 30 123

Elemente des Prometheus-Mythos und des Demiurgen-Mythos in Platons
Timaios mit der ,dionysisch4 umkodierten Vorstellung Schopenhauers von der
Aufhebung des principium individuationis verbindet.
30, 15 der eleusinische Mysterienruß Dionysos ist neben Demeter und oft in
Gemeinschaft mit ihr die wichtigste Mysteriengottheit der Griechen. Jedes Jahr
veranstalteten die Athener eine große Prozession zur Mysterienfeier in Eleusis,
wo sich der ursprünglich auf die weibliche Fruchtbarkeit bezogene Demeter-
kult und der auf die männliche Zeugungskraft ausgerichtete Dionysoskult ver-
banden. Für die Mysterienhandlung galt - daher die Bezeichnung ,Mysterien4 -
ein Schweige- und Geheimhaltungsgebot, das erstmals der homerische Deme-
terhymnus bezeugt. In diesem spätestens um 600 v. Chr. entstandenen Hym-
nus, der auch die Mysterien erstmals greifbar macht, heißt es, Demeter habe
den Führern des Volkes die Mysterien-Riten gelehrt: „heilige Riten [...] die nie-
mand verletzen oder enthüllen oder in Worten ausdrücken darf [...] Wer unter
den Menschen diese Mysterien gesehen hat, ist selig44 (V. 475-483). Das Diony-
sos-Chorlied in der Antigone (V. 1115-1148) feiert den Gott, der in Eleusis
„geheimnisvoll“ waltet: Sophokles spielt damit auf den Zusammenhang der
Dionysos-Mysterien mit denen der Demeter an, die in Eleusis ihr Zentrum hat-
ten. Platon sagt sogar über den für Dionysos charakteristischen „Wahnsinn“,
er gehöre zu den „Einweihungen“, also zum Mysterienkult (Phaidros 265b 4).
Bestandteil der Mysterien war ein als Initiation gestaltetes Reinigungsritual,
auf das die Einweihung folgte: Der Einweihungswillige ließ seinen alten
Zustand hinter sich und wandelte sich zum „neuen Menschen“, zum Neophy-
tos. Ihm wurde die Hoffnung auf Erlösung, auf Wiedergeburt und Verwand-
lung, ja auf Vergöttlichung zuteil. Die Dionysosmysterien beschränkten sich
nicht auf ihren griechischen Ursprungsbereich, sondern gewannen bis ins
4. Jahrhundert n. Chr. hinein auch im römischen Reich große Bedeutung mit
eigenen Kultvereinen. Während der Arbeit an seiner Tragödienschrift entlieh
N. aus der Universitätsbibliothek Basel den dritten, dem Dionysos gewidmeten
Band von Georg Friedrich Creuzers vierbändigem Werk Symbolik und Mytholo-
gie der alten Völker, besonders der Griechen. Besonderen Wert legte Creuzer auf
die dionysischen Mysterien. Darüber ärgerte sich bezeichnenderweise Goethe,
während die romantische Geistesströmung, die bis hin zum späten Schelling,
zu Wagner und N. reicht, diesen Zug aufnahm. N. bezieht auch weiterhin
nahezu alle genannten Elemente des Mysteriengeschehens direkt oder indirekt
mit ein, um sie letztlich im Hinblick auf Wagners Musik zu interpretieren, die
in Bayreuth, dem neuen Eleusis, ihre ins Kultische stilisierte Weihestätte finden
sollte. In der letzten der Unzeitgemäßen Betrachtungen: Richard Wagner in Bay-
reuth, heißt es: „Ihr sollt durch meine Mysterien hindurch, ruft er [Wagner]
ihnen zu, ihr braucht ihre Reinigungen und Erschütterungen“ (KSA 1, 464,
 
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