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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0145
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124 Die Geburt der Tragödie

15 f.), und kurz vorher: „Wer die Kunst befreien, ihre unentweihte Heiligkeit
wiederherstellen wollte, der müsste sich selber erst von der modernen Seele
befreit haben; nur als ein Unschuldiger dürfte er die Unschuld der Kunst fin-
den, er hat zwei ungeheure Reinigungen und Weihungen zu vollbringen“
(KSA 1, 463, 31-464, 1).

2. Kapitel
Nach der Konzentration auf die wesentlichen Mythologeme, deren N. sich in
GT 1 bediente, um Schopenhauers Philosophie zu allegorisieren, wendet er
sich nun der Exemplifizierung an den Griechen zu. Er grenzt die „dionysischen
Griechen“ von ähnlich orgiastischen orientalischen Phänomenen ab, indem er
die „Versöhnung“ von Dionysischem und Apollinischem als typisch griechisch
auffaßt. Dann aber legt er das Hauptgewicht auf die „dionysische“ Musik, die
er mit dem „dionysischen Dithyrambus“ gleichsetzt, um im Sinne Schopen-
hauers die Musik als Manifestation des Weltgrunds darzustellen, den er aller-
dings dionysisch umdeutet.
30,18-21 Wir haben bis jetzt das Apollinische und seinen Gegensatz, das Dio-
nysische, als künstlerische Mächte betrachtet, die aus der Natur selbst, ohne
Vermittelung des menschlichen Künstlers, hervorbrechen] Obwohl
von der „Natur selbst“ die Rede ist, wird hier eine meta-physische Vorausset-
zung greifbar. Das unmittelbare „Hervorbrechen“ von „Mächten“ soll eine
Letztbegründung für alles davon abhängige menschliche Vermittlungsgesche-
hen liefern. Sofort anschließend kommt dieses Unmittelbare zum Ausdruck,
wenn es heißt (30, 21 f.), daß sich „ihre Kunsttriebe [diejenigen der „Natur“]
zunächst auf directem Wege befriedigen“. Die metaphysische Voraussetzung
wird hier durch die naturalisierende Rede von „Trieben“ verdeckt. Alsbald
kehrt die Annahme von der Unmittelbarkeit der Kunsttriebe in der Natur in
der Formulierung wieder: „Diesen unmittelbaren Kunstzuständen der Natur
gegenüber ist jeder Künstler ,Nachahmer“4 (30, 28 f.). Insgesamt handelt es sich
um den Versuch, die traditionelle Debatte über das Verhältnis von „Natur“ und
„Kunst“ dadurch zu entscheiden, daß der „Natur“ selbst schon „Kunsttriebe“
zugesprochen werden. Sie schaffen im apollinischen Traum und im dionysi-
schen Rausch Repräsentationen, die ins menschliche Unbewußte hineinrei-
chen und die dann der Künstler als „Nachahmer“ in eine bewußte Gestaltung
überführt.
31, 1-7 wie er, in der dionysischen Trunkenheit [...] niedersinkt und wie sich
ihm nun, durch apollinische Traumeinwirkung, sein eigener Zustand d. h. seine
 
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