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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0155
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134 Die Geburt der Tragödie

schäft erscheint unter diesem Aspekt als ein ebenso täuschender wie notwen-
diger Wahn, durch den in allen, „die zeugungsfähig sind, der Genius der Gat-
tung das kommende Geschlecht“ vorbereitet (Frauenstädt, Bd. 3, S. 627).
Aufgrund der Überschreitung alles bloß Individuellen bringt N., wieder in
Schopenhauers Terminologie, den „Genius der Gattung“ mit der „Vernichtung
des Schleiers der Maja“ in Verbindung. Bei Schopenhauer dient freilich der
überindividuelle „Genius der Gattung“ gerade zur Aufrechterhaltung des prin-
cipium individuationis, indem er zur Zeugung neuer Individuen treibt.
33, 30 f. das Einssein als Genius der Gattung] Obwohl N. unmittelbar vorher
von der „Vernichtung des Schleiers der Maja“ spricht und damit auf Schopen-
hauer anspielt, weist der Kontext, in dem die „dionysische Musik“ (33, 16; 33,
24) ekstatisch erregend wirkt, nicht so sehr auf Verneinung des „Willens zum
Leben“ als auf enthusiastische Steigerung und „Verzückung“. In 56, 23 f. ist
von der „Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung der
gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins“ die Rede. Bei Yorck von
Wartenburg, Die Katharsis des Aristoteles und der Oedipus Coloneus des
Sophokles, Berlin 1866, S. 21, konnte N. schon ganz ähnlich lesen:
Nur in dem Aufgeben des Selbstbewusstseins, in dem Rückkehren, woher er entsprossen,
in den Schoos der allwaltenden Natur, findet der Mensch sein Heil. So vollzieht er das
Opfer seiner selbst und macht sich zum Organ, zum Gefäss der Naturmacht, indem er
den Strom der das Weltall durchflutenden Kräfte in sich leitet. In ihren Wogen versinkt
die Sonne der Erkenntniss, und die alte Sage erfüllt sich, Zeus werde von den Titanen
gestürzt werden. / Dies ist die Bedeutung und die Nothwendigkeit des Dionysoskultus.
Der Dienst des Gottes besteht darin, dass seine Anhänger sich in einen ekstasischen [sic]
Zustand versetzen, von der ihnen anhaftenden Qual des Bewusstseins sich befreiend [...] /
Dies ist der Boden, dem die Wunderpflanze der antiken Tragödie entspross.
Und auf S. 28, Anm. 3, heißt es: „Wie in dem Bacchuskultus so in der Tragödie
ist die Musik ein vorzügliches Mittel zur Herbeiführung der Ekstase oder
Katharsis“.
33, 31-34, 4 Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken; eine
neue Welt der Symbole ist nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur
die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glie-
der rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen symboli-
schen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich
ungestüm. Um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte zu fassen]
Wagner legt in seiner Schrift Oper und Drama besonderen Wert auf die Verstär-
kung des „Ausdrucks“ durch sämtliche Ausdrucksmittel, insbesondere durch
„die Gebärde des Leibes“, die „sich in der bedeutungsvollen Bewegung der
ausdrucksfähigsten Glieder und endlich der Gesichtsmienen als von einer inne-
 
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