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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0161
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140 Die Geburt der Tragödie

polis von Athen, dessen bildliche Darstellungen der Schutzgöttin Athene gel-
ten. Am Westgiebel ist der Streit zwischen Athene und Poseidon um den Besitz
Attikas, am Ostgiebel die Geburt Athenes dargestellt. Diese Szenen sind umge-
ben von zahlreichen olympischen Göttern. Die „Friese“ allerdings, die N. nicht
zutreffend ebenfalls nur auf die olympischen Götter und zwar auf deren „Tha-
ten“ bezieht, zeigen an der Westseite und an den Längsseiten die feierliche
Prozession der Bürger zu Ehren der Stadtgöttin Athene beim großen Staatsfest
der Panathenäen. Auf der Ostseite wird diese Bürger-Prozession von einer
Gruppe olympischer Götter und von der athenischen Priesterschaft erwartet.
Bezeichnenderweise spart N. die Bürger aus.
34, 20-23 Wenn unter ihnen auch Apollo steht, als eine einzelne Gottheit neben
anderen und ohne den Anspruch einer ersten Stellung, so dürfen wir uns dadurch
nicht beirren lassen.] Hier wird das interessengelenkte Verfahren N.s besonders
deutlich: Die Zentralgestalt der Darstellung, die als Schutzherrin Athens gefei-
erte Göttin Athene verschweigt er, und daß Apollon nur als ein Gott unter
anderen in der sie umgebenden Göttergesellschaft erscheint, tut er, um das
,Apollinische4 hervorzuheben, als bloße Irritation ab.
34, 28-35, 1 Wer, mit einer anderen Religion im Herzen, an diese Olympier
herantritt und nun nach sittlicher Höhe, ja Heiligkeit, nach unleiblicher Vergeisti-
gung, nach erbarmungsvollen Liebesblicken bei ihnen sucht, der wird unmuthig
und enttäuscht ihnen bald den Rücken kehren müssen. Hier erinnert nichts an
Askese, Geistigkeit und Pflicht] Zwar spricht N. später, im Versuch einer Selbst-
kritik von 1886 von dem „feindseligen Schweigen [...], mit dem in dem ganzen
Buche das Christenthum behandelt ist“ (18, 6-8), aber diese Stelle - die einzige
derartige in GT - ist beredt genug. Die „andere Religion“ ist die christliche,
und die Vorstellungen von „Heiligkeit“, „unleiblicher Vergeistigung“, „erbar-
mungsvollen Liebesblicken“ gehören zu dieser Religion, die, anders als die
griechische, Heiligkeit sowie eine leibfeindliche Spiritualität zum Ideal erhebt
und deshalb „Askese“ propagiert. Sie betet zu einem Gott des Erbarmens und
der (nicht sinnlichen) Liebe. N. nimmt in seinen Ausführungen zentrale Krite-
rien der Kritik am Christentum auf, die schon Goethe im Namen einer leib-
und sinnenzugewandten Antike formuliert hatte, einer Kritik, die Heine mit
seiner Antithese von Sensualismus und Spiritualismus verschärfte (zu N.s
Kenntnis von Heines entsprechenden Schriften vgl. den Überblickskommentar
zum Versuch einer Selbstkritik S. 10). Diese Kritik reichte über Feuerbach bis in
N.s Zeit, etwa in Gottfried Kellers Grünem Heinrich. Franz Overbeck, N.s
Freund, mit dem er in der Entstehungszeit der Tragödienschrift zusammen-
wohnte und in intensivem Gedankenaustausch stand, betonte Askese und
Weltverneinung als Grundzüge des frühen Christentums. Die „sittliche Höhe“
 
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