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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0163
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142 Die Geburt der Tragödie

von diesem selben Leben aussagt, das sich hier mit so unerklärlicher Heiterkeit
vor dir ausbreitet“] Der rückwärts gewandte Beschauer ist derjenige, der sich
an die traditionelle, durch die humanistische Bildung und den Klassizismus
etablierte Auffassung hält. Ihr zufolge ist die Sinnlichkeit und Heiterkeit anti-
ker Kulturphänomene optimistisch als deren eigentliches Wesen zu deuten.
Dagegen entwickelt N. alsbald seine an Schopenhauer orientierte Interpreta-
tion, derzufolge sich unter dem heiter-schönen Oberflächen-Schein ein düste-
rer Leidensgrund verbirgt.
35, 12-24 Es geht die alte Sage, dass König Midas [...] Das Allerbeste ist [...]
nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist
für dich - bald zu sterben.] Diese Auskunft des Silen ist in der antiken Literatur
ein Gemeinplatz. U. a. ist er überliefert bei Theognis (V. 425 ff.), bei Bakchylides
(5, 160) sowie im Ödipus auf Kolonos des Sophokles (V. 1224 f.). Von Sophokles
übernahm ihn Hölderlin, um ihn als griechisches Motto dem zweiten Band
seines Hyperion voranzustellen. Die ausführlichste Quelle ist Plutarch, Consola-
tio ad Apollonium 27, der damit ein Fragment aus Aristoteles’ Eudemos wieder-
gibt (Frg. 44, ed. W. D. Ross, Oxford 1955, S. 18 f.). Auch im Certamen Homeri
et Hesiodi befindet sich dieser Gemeinplatz - in einem Text, zu dem N. 1870
und 1873 Untersuchungen im ,Rheinischen Museum4 veröffentlichte. Cicero
übertrug in den Gesprächen in Tusculum I 48, 115 den Topos ins Lateinische:
„non nasci homini longe Optimum esse, proximum autem quam primum mori“.
N. paraphrasiert fast wörtlich die Erzählung, in die Aristoteles in seinem nur
fragmentarisch erhaltenen Dialog Eudemos den Topos einbezieht. Vor Augen
stand ihm zugleich die Welt als Wille und Vorstellung II, 4. Buch, Kapitel 46:
Von der Nichtigkeit und dem Leiden des Lebens, in dem Schopenhauer den
Topos mit wichtigen Belegstellen zitiert, darunter die Verse des Theognis und
diejenigen aus dem Ödipus auf Kolonos (Frauenstädt, Bd. 3, S. 673 f.). Der wei-
tere Horizont von N.s Darlegungen entspricht diesem Kapitel, in dem sich
Schopenhauer gegen den philosophischen Optimismus wendet und eine pessi-
mistische Lebensanschauung propagiert.
Der antike Topos nennt es lediglich das Allerbeste, „nicht geboren zu
sein“; N. spitzt noch zu: „nicht zu sein, nichts zu sein“. Dies erinnert eben-
falls an Schopenhauer: Der erste Band der Welt als Wille und Vorstellung endet
in einem emphatischen Bekenntnis zum „Nichts“, zum Nirvana, das Buddha
als letztes Ziel lehrte - „Nichts“ ist bezeichnenderweise das letzte Wort des
Werkes (Viertes Buch, § 71, Frauenstädt Bd. 2, 487). Jacob Burckhardt hatte,
wie dann N., diese pessimistische Lebens- und Weitsicht Schopenhauers auf
die griechische Kultur übertragen. In seiner Griechischen Kulturgeschichte, die
zwar erst postum im Jahr 1900 erschien, die N. aber durch ihm überlassene
Vorlesungsmitschriften kannte, betonte Burckhardt den „entschiedenen Pessi-
 
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