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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0168
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Stellenkommentar GT 4, KSA 1, S. 37-39 147

38, 31 f: „den lustvollen Schein“, den das Ur-Eine „braucht“); ja er spricht
(39, 9-11) von der „Urbegierde“ nach dem Schein und der „unbeschreiblichen
Lust“, die deren „Befriedigung“ dem „innersten Kern der Natur“ (dem „Ur-Einen“)
verschaffe. Damit wird auch klar, was er mit den mehrmals betonten „Trieben“
(25,18; 26,3) und den „Kunsttrieben der Natur“ (31,11) meint.
38, 31 die entzückende Vision] In älterer Zeit hat das Wort „entzücken“ noch
die intensive Valenz von „emporreißend“, „begeisternd“.
39, 12-17 Rafael[...] In seiner Transfiguration] Das in der Pinacoteca
Vaticana ausgestellte letzte Werk Raffaels zeigt die Verklärung Christi. Es ent-
stand 1518-20. Raffael gestaltete auf der obersten der drei Bildebenen die Ver-
klärung Christi zwischen Moses und Elias auf dem Berg Tabor. Darunter, auf
der mittleren Bildebene, befinden sich vom Licht der Verklärung geblendete
Gestalten, noch eine Ebene tiefer auf der rechten Bildhälfte die von einem
Erlebnis menschlichen Leidens (in Gestalt eines wahnsinnigen Knaben) betrof-
fenen und verängstigten Menschen. In der linken Hälfte dieser unteren Bild-
ebene weist ein Jünger die hilfesuchenden Angehörigen des kranken Knaben
mit ausgestrecktem Arm auf den verklärt in der Höhe schwebenden Christus
als heilbringende Erscheinung. Dieses Bild kannte N. aus der Beschreibung
Jacob Burckhardts im Cicerone, den er besaß (in der 2. Auflage, bearbeitet von
A. v. Zahn, 3 Bde, Leipzig 1869, Bd. 3: Malerei, S. 917-919). Charakteristisch
für N.s gewaltsam philosophischen4 Umgang ist hier wie auch im Bereich der
literarischen Zeugnisse die Interpretation des Gemäldes im Sinne der eigenen
Darstellungsintention. Raffaels Bild setzt schlicht menschliches Leiden in
Szene, um dann auf die Erlösung vom Leiden durch den verklärten Christus
hinzuweisen. N. aber macht aus dem menschlichen Leiden, das er an „dem
besessenen Knaben, den verzweifelnden Trägern, den rathlos geängstigten
Jüngern“ (39, 17 f.) dargestellt sieht, eine auf Schopenhauers pessimistische
Philosophie verweisende „Wiederspiegelung des ewigen Urschmerzes, des ein-
zigen Grundes der Welt“ (39, 19 f.).
Auch später noch bezog sich N. auf die „Transfiguration“. Im 1. Buch der
Morgenröthe (8. Aphorismus) heißt es: „Transfiguration. - Die rathlos Lei-
denden, die verworren Träumenden, die überirdisch Entzückten, - diess sind
die drei Grade, in welche Raffael die Menschen eintheilt. So blicken wir
nicht mehr in die Welt - und auch Raffael dürfte es jetzt nicht mehr: er
würde eine neue Transfiguration mit Augen sehen“ (KSA 3, 21, 12-17). Die
„neue Transfiguration“ gilt Schopenhauers Konzeption von der transitorischen
Verklärung des an seiner Unseligkeit leidenden „Willens“ in der Sphäre der
ästhetischen „Vorstellung“. So wird diese Sphäre als Säkularisierung der für
den historischen Raffael noch verbindlichen christlichen Überlieferung ver-
standen.
 
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