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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0171
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150 Die Geburt der Tragödie

hemmung verantwortlich. Eines seiner Leitmotive ist deshalb das „Maß“
(mesotes) und die im Sinne des Maßhaltens definierte „Besonnenheit“ (sophro-
syne), die fest zum griechischen Tugendkanon auch bei Platon gehört. Aristote-
les formalisiert in der Nikomachischen Ethik das Prinzip des Maßes und der
Mitte als Grundlage ethischen Verhaltens und Handelns, indem er es als „Mitte
zwischen den Extremen“ bestimmt, und zugleich konkretisiert er dieses Prin-
zip, indem er jede einzelne Tugend als Mitte zwischen zwei Extremen definiert,
z. B. Tapferkeit als die Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit. Vom ethi-
schen Bereich greift diese Lehre von Maß und Mitte insofern in den dianoeti-
schen Bereich über, als sophrosyne, die Besonnenheit, auch Vernunft und
Urteilsfähigkeit einschließt. In die ästhetische Sphäre, die N. mit der Vorstel-
lung des apollinischen Schönheitsideals meint, reicht sie besonders auf den
Gebieten der ,klassischen4 Kunst und der klassizistischen Kunsttheorie herein.
40, 6-10 Apollo, als ethische Gottheit, fordert von den Seinigen das Maass und,
um es einhalten zu können, Selbsterkenntniss. Und so läuft neben der ästheti-
schen Nothwendigkeit der Schönheit die Forderung des „Erkenne dich selbst“
und des „Nicht zu viel!“ her] Dem Apollon werden die beiden Forderungen
zugeschrieben, weil sie am Apollon-Tempel in Delphi eingemeißelt waren. Die
Herkunft der alten, weitverbreiteten und seit jeher als Fundament der griechi-
schen Ethik geltenden Sprüche ist unbekannt. Platon leitet sie von den legen-
dären Sieben Weisen her, die sie Apollon zu Ehren an dessen Tempel in Delphi
angebracht hätten: „Diese haben auch gemeinschaftlich die Grundlagen der
Weisheit dem Apollon im Tempel zu Delphi gewidmet, indem sie darauf schrie-
ben, was alle rühmen: ,Erkenne dich selbst4 und ,Nichts im Übermaß4“ (Prota-
goras 343 a-b). N. versucht den einen Spruch mit dem anderen in Beziehung
zu setzen.
40, 16-20 seiner übermässigen Weisheit halber, die das Räthsel der Sphinx
löste, musste Oedipus in einen verwirrenden Strudel von Unthaten stürzen: so
interpretirte der delphische Gott die griechische Vergangenheit.] Die Sphinx, eine
geflügelte Löwin mit menschlichem Kopf, sucht im Auftrag der Hera Theben
heim, indem sie allen Vorübergehenden ein Rätsel stellt und jeden, der es
nicht zu lösen weiß, in den Abgrund stürzt. Ödipus findet die Lösung, worauf
sich die Sphinx selbst in den Abgrund stürzt. N.s Deutung ist ganz von dem
Versuch geprägt, die „griechische Vergangenheit“ als ein archaisches, vorapol-
linisches Titanenzeitalter zu verstehen. Sophokles aber, der (Asklepios-) Pries-
ter war und für die traditionelle Religion eintrat, nimmt gegen das modernste
Phänomen seiner Gegenwart Stellung: gegen die, wie schon der Name sagt,
auf ihre „Weisheit“ (sophia) stolze Sophistik. Indem er vorführt, daß der
„weise Ödipus“ nicht einmal weiß, wer er selbst ist, läßt er ihn ins Verhängnis
 
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