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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0173
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152 Die Geburt der Tragödie

gen? Widerspiel von Titanen und olympischen Göttern, allmählich geschieden
und die eine Partei überwunden“.
42,1-3 Wenn auf diese Weise die ältere hellenische Geschichte, im Kampf jener
zwei feindseligen Principien, in vier grosse Kunststufen zerfällt] Die hier noch
durchscheinende idealistische Geschichtsbetrachtung, besonders diejenige
Hegels, interpretiert Geschichte nicht unter Zugrundelegung realer Verhältnisse
und Ereignisse, sondern nach Prinzipien und ihren Konstellationen. Daß dabei
der „Kampf“ solcher Prinzipien eine große Rolle spielt, ist zwar nicht neu, für
N. aber besonders charakteristisch, da er das geschichtliche Werden als Folge
des Kampfes sieht - kurz vorher hatte er affirmativ auf Heraklits Diktum vom
Krieg als dem Vater aller Dinge hingewiesen (39, 21). Den bisherigen Ausfüh-
rungen zufolge ist die erste der „vier grossen Kunststufen“ eine nicht näher
eingegrenzte Urzeit, in der „Titanenkämpfe“ und ein „dionysisch“-chaotischer
Trieb als „Natur“ herrschen und die daher kaum als „Kunst“-Stufe zu bezeich-
nen ist; darauf folgt als zweite Kunststufe eine originär apollinisch geprägte,
durch die olympische Götterwelt und die homerischen Epen repräsentierte Kul-
tur; als dritte Kunststufe eine religiös und künstlerisch faßbare „dionysische“
Kultur, die durch das Eindringen des Dionysoskults und durch die Entstehung
des Dithyrambos (erstmals im 7. Jahrhundert durch Archilochos) bezeugt ist
und die „apollinische“ Kultur der vorhergehenden Kunststufe ablöst; schließ-
lich als vierte „Kunststufe“ ein neues, gegen die „dionysische“ Überflutung
der vorherigen Kunststufe sich entschieden reaktiv ausprägendes, „dorisch“-
apollinisches Stadium. In diesem historischen Konstrukt treten die beiden
„Kunsttriebe“ der Natur, der dionysische und der apollinische, in wechselnder
Dominanz hervor und stehen dialektisch in kämpferischer Beziehung zueinan-
der. Erst in der Tragödie sieht N. sie in einer vollkommenen Balance, in welcher
der bisherige Antagonismus in einer - vorübergehenden - Synthese aufgeho-
ben sei.
Insgesamt überformt dieses noch stark in der Tradition Hegels stehende
dialektische Geschichtsdenken (in Ecce homo heißt es über GT: „sie riecht
anstössig Hegelisch“, KSA 6, 310, 6 f.) in seiner spekulativ auf die Begriffe „dio-
nysisch“ und „apollinisch“ reduzierten Systematik den Versuch, vier verschie-
dene „Kunststufen“ zu fassen. Die Frage „nach dem letzten Plane dieses
Werdens und Treibens“ (42, 3f.) läßt überdies ein teleologisches Konzept
erkennen, das schließlich die Tragödie als „Ziel“ (42, 9) darstellt. Zu diesem
streben die vier „Kunststufen“ empor und in ihm vereinen sich beide Kunst-
triebe“ (42, 9), das Dionysische und das Apollinische, zu einem „geheimniss-
vollen Ehebündniss“ (42, 10).
42,11 f. zugleich Antigone und Kassandra] Antigone und Kassandra sind nicht
nur Figuren der Tragödie und spezifisch tragische Figuren, sondern sie sollen
 
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