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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0174
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Stellenkommentar GT 5, KSA 1, S. 41-42 153

in dieser opaken Allegorie auch das Dionysische und das Apollinische ver-
einen. Wilamowitz spottete darüber als ein „hexeneinmaleins“ und verhieß
demjenigen, der es erklären könne, „eine angemessene belohnung“ (S. 22, bei
Gründer S. 45, Anm. 32).
5. Kapitel
Dieses und das nächste Kapitel gelten der Lyrik. Beide wurden relativ spät in
das Druckmanuskript eingefügt, wie sich schon an dem nur notdürftig über-
brückten Hiat zwischen dem Ende des vierten und dem Beginn des fünften
Kapitels zeigt. In der Gesamtkonzeption sollen beide Kapitel insofern zur zen-
tralen Darstellung der Tragödie überleiten, als diese N. zufolge „aus dem Geiste
der Musik“, d. h. aus dem Chor entstand und die griechische Lyrik wesentlich
Musik ist. Insbesondere gilt dies für die Chorlyrik, für die Archilochos als ein
Hauptzeuge aufgerufen wird, und für die spezielle lyrische Gattung des Dithy-
rambos, der erstmals durch ein Fragment des Archilochos bezeugt ist und eng
mit dem Dionysoskult zusammenhängt.
Eine genauere Vorstellung für den Übergang von der lyrischen zur dramati-
schen Form entwickelt N. in seiner Tragödienvorlesung vom Sommersemester
1870: „Mit der Einführung des zweiten Schauspielers [durch Aischylos] war
das Drama aus der lyrischen Tragödie geboren. Früher waren die Höhepunkte
nur die großen Pathoschöre, der Prolog u. die Epeis(odia} hatten nur den Sinn
von vorbereitenden Partien. Das Ganze zerfiel in 4 Theile. Jetzt ändert sich die
Bedeutung des Epeisodions: während man ehemals die näöp der Chormasse
mitleiden wollte u. nur gerade so viel Handlung mitnahm, als die näöp zur
Erklärung brauchten: wollte man jetzt die näöp der Virtuosen [der Schauspie-
ler] als Höhepunkte sehen, dies geschah mit der Steigerung der mimischen
Kunst, kurz, je virtuoser das Schauspielwesen entwickelt wurde. [...]
so verändert sich bei Aesch. die Bedeutung des Chores völlig. Er ist nicht mehr
Protagonist: was ist er denn? Bei Aesch. zeigt sich ein Schwanken in seiner
Bedeutung: bei Soph. nimmt er eine ganz neue Position ein“ (KGW II 3, 38f.).
42,14-17 Wir nahen uns jetzt dem eigentlichen Ziele unsrer Untersuchung, die
auf die Erkenntniss des dionysisch-apollinischen Genius und seines Kunstwerkes,
wenigstens auf das ahnungsvolle Verständniss jenes Einheitsmysteriums gerich-
tet ist] Der „dionysisch-apollinische Genius“ ist eine Hypostasierung der sich
- nach N.s Hypothese - in der Tragödie manifestierenden Einheit, die aus
der Synthese der zuvor antagonistischen „Kunsttriebe“ des Apollinischen und
Dionysischen hervorgegangen sei. Diese Hypostasierung verbindet sich mit
einer emphatischen Mystifizierung, indem vom „Einheitsmysterium“ die Rede
 
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