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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0175
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154 Die Geburt der Tragödie

ist. N. schließt damit an die Rede vom „geheimnissvollen Ehebündniss“ in der
Schlußpartie des vorausgehenden 4. Kapitels an (42, 10). Dieser Mystifizierung
entspricht es, daß die zuerst anvisierte „Erkenntniss“ alsbald auf das
„ahnungsvolle Verständniss“ dieses Mysteriums zurückgenommen wird. Der
feierliche Beginn „Wir nahen uns“ ist die Sprache derjenigen, die der Einwei-
hung entgegengehen. Einen solchen mysterienhaften Duktus wählt N. immer
wieder im Hinblick darauf, daß Dionysos nicht nur die Gottheit der Tragödie,
sondern auch eine Mysteriengottheit mit entsprechendem „Geheimcultus“ ist,
wie es später ausdrücklich heißt (88, 8). Im Versuch einer Selbstkritik bezeich-
net N. seine Tragödienschrift insgesamt als „Buch für Eingeweihte“ (14, 19).
42, 18-20 jener neue Keim [...], der sich nachher bis zur Tragödie und zum
dramatischen Dithyrambus entwickelt] Der „neue Keim“ ist eine Setzung, deren
Konstruktionscharakter durch die organologische Metaphorik verdeckt wird.
N. verstärkt so seine Hypothese von der Einheit des Dionysischen und des
Apollinischen in der griechischen Tragödie: Nach der Rede vom „dionysisch-
apollinischen Genius“ (42, 15 f.) und vom „Einheitsmysterium“ (42, 17) handelt
es sich um eine weitere synthetisierende Operation; sie suggeriert eine natürli-
che Entwicklungsnotwendigkeit. Der problematische Begriff des „dramati-
schen Dithyrambus“, den N. schon unmittelbar vorher einführt (42, 8 f.), um
ihn auf den folgenden Seiten wiederaufzunehmen (44, 25 f.), dient sowohl der
Rückführung der Tragödie auf einen lyrischen (d. h. hier: musikalischen)
Ursprung als auch der Zusammenführung von Dithyrambus und Tragödie
unter dem gemeinsamen Vorzeichen des Lyrisch-Musikalischen. Der Bezeich-
nung „dramatischer Dithyrambus“ entspricht keine historisch überlieferte Gat-
tung, aber N. konnte sie in einem der von ihm herangezogenen wissenschaftli-
chen Werke finden, bei Julius Leopold Klein: Geschichte des Drama’s, Bd. 1:
Geschichte des griechischen und römischen Drama’s (1865), S. 115: „Ein Schol.
Zu Aristophanes’ Plutos (290) nennt den Kyklops des Philoxenos einen dra-
matischen Dithyrambos“. N. schreibt dem Dithyrambus einen dramati-
schen Charakter zu, um seine Affinität zum dramatischen Geschehen der Tra-
gödie nahezulegen. In GT 2 spricht er noch vom „dionysischen Dithyrambus“
(33, 27). In GT 8 vollzieht er den Übergang vom „dithyrambischen Chor“ (61,
24 f.) zum Tragödienchor.
42, 22 f. Homer und Archilochus] DaN. vorher von dem ,,neue[n] Keim“
spricht (42, 18), der das apollinisch-dionysische „Einheitsmysterium“ enthalte,
welches sich in der Tragödie und im Dithyrambus offenbare, und da er nun
Homer und Archilochos als „Urväter“ (42, 21 f.) bezeichnet, zielt er, der Doppel-
heit von Apollinischem und Dionysischem entsprechend, auf Homer (8. Jahr-
hundert v. Chr.) als Repräsentanten des Apollinischen und auf Archilochos
 
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