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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0192
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Stellenkommentar GT 7, KSA 1, S. 52 171

dem man die Einführung des ersten Schauspielers (des Protagonistes) und
damit einen ersten Ansatz zur späteren Entstehung des Dialogs zuerkannte.
Dieser Überlieferung zufolge galt also gerade die Aufhebung der rein chori-
schen Form als Ursprung der Tragödie. Zu den Zeugnissen über Thespis: A.
Pickard-Cambridge: Dithyramb, Tragedy and Comedy, Oxford 1962 (2. Auflage
bearbeitet von T. B. L. Webster), S. 69-89.
Die anschließenden Ausführungen des Aristoteles über die auf die anfäng-
lichen Improvisationen folgende Entwicklung der Tragödienform sind von sei-
nem teleologischen Denken bestimmt. Diesem zufolge entwickelt sich jedes
Wesen zu dem in seiner Natur schon angelegten Vollendungszustand: auf sein
Telos hin. Davon weicht N. fundamental ab, indem er gerade die spätere Ent-
wicklung der Tragödie als Verfallsprozess darstellt und den „Ursprung“
archaistisch absolutsetzt.
Ein weiteres Zeugnis stammt von dem spätantiken Kompilator Diogenes
Laertius (2. Jh. n. Chr.), der seine Informationen weitgehend aus hellenisti-
schen Handbüchern bezog. N. kannte ihn und die Quellenfrage besonders gut,
da er eine wissenschaftliche Arbeit De Laertii Diogenis fontibus veröffentlicht
hatte. Diogenes Laertius schreibt (3, 56): „wie einst in der Tragödie zuerst allein
der Chor dramatisch auftrat“ (coonEp öe to naAaiöv ev tt) Tpaywöia npÖTspov
pöv pövoq ö xopdq öisöpapötTi^Ev), und er fügt hinzu, daß „später aber Thespis
den ersten Schauspieler erfand, um dem Chor Ruhepausen zu geben, und
Aischylos den zweiten, Sophokles den dritten und die Tragödie zur Vollendung
brachte“.
Schließlich findet sich ein drittes Zeugnis bei einem weiteren spätantiken
Kompilator, bei Athenaios (2./3. Jh. n. Chr.) 14, 630c: „Die ganze Satyrdichtung
bestand in alter Zeit aus Chören, wie auch die Tragödie jener Zeit: deshalb
hatten sie auch keine Schauspieler“ (ovvEOTriKEv öe Kai aarupiKp näaa noipaiq
to naAaiöv ek xopwv, cbq Kai p töte Tpayqjöia' öiönsp ovös vnoKpiTaq sixov).
Weniger aussagekräftig ist eine Erörterung des spätantiken Kommentators und
Redners Themistios (ca. 317-388 n. Chr.) in Orationes 26, 316 d.
Zeitlich lange vor diesen Zeugnissen liegt noch eine Aussage Herodots
(5. Jh. v. Chr.). Er spricht von „tragischen Chören“ (5, 67, 5): „Neben anderen
Ehrungen für Adrastos [einen Stadtheros] feierten die Leute von Sikyon auch
seine Leiden mit tragischen Chören; sie verehrten nicht den Dionysos, sondern
den Adrastos. Kleisthenes jedoch gab die Chöre dem Dionysos, das übrige
[Kult-]Opfer aber dem Melanippos“ (...to te öp aAAa oi Eikvcüvioi STipcov töv
ÄöppoTov Kai öp npöq ov TiptüVTsq, töv öe Äöpporov. KAsiaOsvriq ös x°P01X
pöv to) Aiovvaqj änsötüKS, ti\v öe aAApv Ovaipv MsAavinnqj). Herodot aus Hali-
karnassos (etwa 485-425 v. Chr.) benutzte als wichtigste Quelle ein Werk des
Hekataios von Milet, von dem nur Fragmente überliefert sind. Von „tragischen
 
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