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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0193
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172 Die Geburt der Tragödie

Chören“ aber sprach Herodot, der ein Freund des Sophokles war, angesichts
der voll entwickelten Tragödie und der drei großen Tragiker Aischylos, Sopho-
kles und Euripides (ca. 430 v. Chr.). Obwohl N. das Werk von Julius Leopold
Klein: Geschichte des Drama’s (1865) intensiv heranzog - er fand darin u. a.
die häufig wiederholten Begriffe „apollinisch“ und „dionysisch“ (vgl. NK 25,
4-6) - vermeidet er es, auf die Analyse der Herodot-Stelle einzugehen, die
Klein S. 112 aus der zeitgenössischen Forschung aufgreift: „Larcher, in seinem
Commentar zum Herodot (Anm.: I, p. 303 sq.), pflichtet Bentley bei und meint:
,comme cet historien (Herodot) vivait dans un temps oü la tragedie avait atteint
son point de perfection, il donne par une prolepse aux choeurs, en l’honneur
d’Adraste, le nom de choeurs tragiques, quoiqu’ils ne l’eussent point alors‘.
(,da dieser Historiker (Herodot) in einer Zeit lebte, wo die Tragödie ihren Voll-
endungszustand erreicht hatte, gibt er durch eine Prolepse [durch einen Vor-
griff auf seine eigene, spätere Zeit] den zu Ehren des Adrast aufgeführten Chö-
ren die Bezeichnung tragische Chöre4, obwohl sie damals keineswegs so
genannt wurden4)“.
Die angeblich „volle Entschiedenheit“ der Überlieferung, auf die sich N. -
unter Auslassung der ganz anderen Aussagen in der Poetik des Aristoteles -
beruft, beschränkt sich demnach auf die mehr als ein halbes Jahrtausend nach
der Entstehung der griechischen Tragödie verfaßten Angaben des Diogenes
Laertius und des Athenaios. Sowohl im Hinblick auf deren Aussagen wie auch
auf N.s Darlegung ist es problematisch, den Chor als ursprüngliche Tragödie
statt als bloße Vorstufe zu bezeichnen, denn die Tragödie besteht in ihrer histo-
risch ausgeprägten und greifbaren Form nicht bloß aus Chören, sondern
wesentlich auch aus Dialogen und einer Handlung. N. gerät in einen Selbstwi-
derspruch, indem er an der hier zu erörternden Stelle vom „tragischen Chore
als dem eigentlichen Urdrama“ und bald darauf als der „Urtragödie“ (60, 1)
spricht, dann aber in GT 8 (63, 21 f.) konstatiert: „ursprünglich ist die Tragödie
nur ,Chor4 und nicht ,Drama4“. Wilamowitz spottet in seiner Streitschrift
Zukunftsphilologie über N.s „hallucinationen über den mutmasslichen zustand
einer mutmasslichen vorstufe zu mutmasslicher zeit“ (S. 22, bei Gründer S. 45).
52,17-26 ohne uns an den geläufigen Kunstredensarten - dass er der ideali-
sche Zuschauer sei oder das Volk gegenüber der fürstlichen Region der Scene zu
vertreten habe - irgendwie genügen zu lassen [...] mag noch so sehr durch ein
Wort des Aristoteles nahegelegt sein] Die „Scene“ (griech. oKqvq) meint die
Spielfläche der Schauspieler vor dem Bühnengebäude. Davor befand sich die
tiefergelegene „Orchestra“, wo der Chor mit Gesang und Tanz auftrat. Das
„Wort des Aristoteles“ steht in den (pseudoaristotelischen) Problemata XIX 48,
922b 18 ff.: „Jene nämlich sind Darsteller von Heroen und die Leitgestalten
waren bei den Alten ausschließlich Heroen, das Volk aber waren die Men-
 
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