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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0194
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Stellenkommentar GT 7, KSA 1, S. 52 173

sehen, aus denen der Chor besteht [...] Denn der Chor ist ein nicht handelnder
Beobachter; er bringt nämlich lediglich Wohlwollen denjenigen Personen ent-
gegen, in deren Gegenwart er auftritt“. Das von N. während der Arbeit an GT
aus der Universitätsbibliothek Basel ausgeliehene und intensiv herangezogene
Werk von Julius Leopold Klein: Geschichte des Drama’s. Bd. 1: Geschichte des
griechischen und römischen Drama’s (1865) pointiert gerade das im Chor reprä-
sentierte demokratische Prinzip und legt entsprechendes Gewicht auf das
„Wort des Aristoteles“. So schreibt Klein S. 161: „Im Chor, erwähnten wir
bereits, hat auch Aristoteles den Volksvertreter erkannt“ (Anm.: Probl. XIX,
49). In 52, 29-53,1, polemisiert N. gegen Klein, ohne ihn zu nennen (vgl. NK 52,
29-53, 4). In einer zwischen Winter 1869-70 und Frühjahr 1870 entstandenen
Nachlassbemerkung (NL 1879/1870, KSA 7, 3[53], 75, 8f.) notiert N.: „Chor. /
Gegen Aristoteles“. Dies gilt für seine anti-aristotelische Auffassung der grie-
chischen Tragödie insgesamt, insbesondere im Hinblick darauf, daß er nicht,
wie Aristoteles, die Handlung und deren Struktur als das Wesentliche der Tra-
gödie ansieht, sondern den „Chor“, d. h. für ihn die „Musik“.
Dem „Wort des Aristoteles“ entsprechen mit gewissen Varianten zahlreiche
spätere Äußerungen aus der Sphäre der „Kunstredensarten“. Lessing faßt im
59. Stück der Hamburgischen Dramaturgie (1769) den Chor als urteilendes Volk
auf, Friedrich Schlegel erklärt in der Charakteristik der griechischen Tragiker
(1795) den Chor in seiner Funktion als „Zuschauer, Richter, Beurtheiler“ zum
„republikanischen Prinzip“, Goethe sieht in seinem Brief an Zelter vom 28. Juli
1803 den Chor als „Organ der Reflexion“, er übernehme das „Amt des Zuschau-
ers“; August Wilhelm Schlegel nennt ihn in seinen Vorlesungen über dramati-
sche Kunst und Literatur (1809) den „idealisierten Zuschauer“; wir müssen den
Chor „begreifen als den personifizierten Gedanken über die dargestellte Hand-
lung, die verkörperte und mit in die Darstellung aufgenommene Teilnahme des
Dichters als des Sprechers der gesamten Menschheit“, und er fährt fort: „Was
er [der Chor] auch in dem einzelnen Stücke Besondres sein und tun mochte,
so stellte er überhaupt und zuvörderst den nationalen Gemeingeist, dann die
allgemeine menschliche Teilnahme vor. Der Chor ist mit einem Worte der idea-
lisierte Zuschauer“. Auch rückt A. W. Schlegel den Chor in eine politische Per-
spektive: „bei ihrem republikanischen Geiste gehörte für sie [die Athener] zur
Vollständigkeit einer Handlung auch deren Öffentlichkeit. Da sie nun mit ihren
Dichtungen in das heroische Zeitalter zurückgingen, wo noch die monarchi-
sche Verfassung galt, so republikanisierten sie gewissermaßen jene Heldenfa-
milien dadurch, daß sie bei ihren Verhandlungen entweder Älteste aus dem
Volk oder andere Personen, die etwas Ähnliches vorstellen konnten, gegenwär-
tig sein ließen“ (August Wilhelm Schlegel: Kritische Schriften und Briefe, hg.
von Edgar Löhner, Stuttgart 1962 ff. Bd. III: Geschichte der klassischen Literatur
 
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