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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0214
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Stellenkommentar GT 8, KSA 1, S. 62-63 193

seinen Gesängen nur begleitet und zugleich die Funktion erfüllt, Zäsuren zwi-
schen den Hauptphasen der Handlung, den ,Akten4, zu bilden. Die Begrün-
dung dafür, daß der Chor nicht handelt, ist spekulativ, aber diese Spekulation
ist intentional präjudiziert: Sie zielt darauf ab, die Handlung im aktiven Sinn
dieses Wortes grundsätzlich zu negieren und sie durch ein passives Geschehen
zu substituieren. Daher ist wie schon bisher nur vom „Leiden“, hier vom Lei-
den des Dionysos die Rede. Diese Konzentration auf das „Leiden“ des Dionysos
resultiert aus N.s Grundtendenz, alle Phänomene der griechischen Tragödie als
mythologischen und künstlerischen Ausdruck von Schopenhauers Welterklä-
rung aufzufassen und so diese Welterklärung durch das in der deutschen Bil-
dungstradition verankerte Idealmuster der Griechen zu legitimieren. Für Scho-
penhauer ist das „Leiden“ die Grundverfassung des Daseins. Folglich muß
Dionysos, der für N. immer wieder als mythologische Metapher dieses Daseins-
grundes fungiert, leiden. Dies ergibt sich auch aus einer aufschlußreichen Vari-
ante zu dieser Textpartie. Statt vom Gott, der leidet, ist in dieser Variante zu
63, 5 vom „Abbild des Urschmerzes und Urwiderspruchs“ (KSA 14, 50) die
Rede. Der von N. in Anlehnung an Schopenhauer statuierte „Urschmerz“ und
„Urwiderspruch“ drückt sich im „Gott, der leidet“ aus. Daß er sich dann „ver-
herrlicht“, entspricht Schopenhauers Vorstellung der vorübergehenden Befrei-
ung vom „Willen“ in der scheinhaften Sphäre der Kunst (vgl. 38, 29-31). Auch
im Folgenden setzt sich die Orientierung an Schopenhauer fort. Da für diesen
aufgrund des prinzipiellen Leidenszustands das „Mitleid“ eine hervorragende
Bedeutung erhält, erscheint der Chor als der „mitleidende“ (63, 9f.). Vgl.
die folgende Erläuterung.
63, 6-11 Bei dieser, dem Gotte gegenüber durchaus dienenden Stellung ist er
doch der höchste, nämlich dionysische Ausdruck der Natur und redet darum,
wie diese, in der Begeisterung Orakel- und Weisheitssprüche: als der mitlei-
dende ist er zugleich der weise, aus dem Herzen der Welt die Wahrheit ver-
kündende.] Diese Aussagen sind in den überlieferten Tragödien und Chorlie-
dern sämtlich ohne Anhaltspunkt. Manchmal irrt sich der Chor sogar,
besonders bei Sophokles. N.s Spekulationen resultieren wiederum aus Scho-
penhauers Gedanken und sind nur von diesem Subtext her zu verstehen. Da
Schopenhauers Urgegebenheit der Leidenszustand der Welt ist, erhält bei ihm
das Mitleid, anders als in der stoischen Tradition und bei Kant, eine wesentli-
che moralische Funktion. Schon Rousseau bezeichnete in seinem Discours sur
l’inegalite (1755) das Mitleid als „reine Regung der Natur, die jeder Reflexion
vorausliegt“ (le pur mouvement de la Nature, anterieur ä toute reflexion) und
als „erstes Gefühl der Menschlichkeit“ (premier sentiment de l’Humanite), aus
dem sich auch alle gesellschaftlichen Tugenden ergeben (Jean-Jacques Rous-
seau: Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inegalite. Kritische Ausgabe
 
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