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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0218
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Stellenkommentar GT 9, KSA 1, S. 63-65 197

rend in dem schönen Körper gewirkt. Das Verderben nahm seinen Ausgangs-
punkt vom Dialog [...] Allmählich sprechen alle Personen mit einem solchen
Aufwand von Scharfsinn, Klarheit und Durchsichtigkeit, so daß für uns wirk-
lich beim Lesen einer sophokleischen Tragödie ein verwirrender Gesammtein-
druck entsteht. Es ist uns als ob alle diese Figuren nicht am Tragischen, son-
dern an einer Superfötation des Logischen zu Grunde giengen“ (KSA 1, 545,
10-546, 12). In GT übertrug N. diese abwertende Charakterisierung von
Sophokles auf Euripides.
64, 27-29 Alles, was im apollinischen Theile der griechischen Tragödie, im
Dialoge, auf die Oberfläche kommt, sieht einfach, durchsichtig, schön aus. In
diesem Sinne ist der Dialog ein Abbild des Hellenen] Von dieser statischen,
aus dem philosophisch-systematischen Grundkonzept entwickelten Sicht des
Dialogs rückt N. in der Schrift Menschliches, Allzumenschliches (II) ab, indem
er ein historisches Entwicklungsschema präsentiert. Zugleich revidiert er den
Stellenwert der chorischen Lyrik und damit des Chores, den er in GT 5 und 6
sowie 7 und 8 noch absolut setzt (MA VM 219, KSA 2, 471, 20-472, 31):
Vom erworbenen Charakter der Griechen. - Wir lassen uns leicht durch die
berühmte griechische Helle, Durchsichtigkeit, Einfachheit und Ordnung, durch das Kry-
stallhaft-Natürliche und zugleich Krystallhaft-Künstliche griechischer Werke verführen, zu
glauben, das sei alles den Griechen geschenkt: sie hätten zum Beispiel gar nicht anders
gekonnt als gut schreiben, wie diess Lichtenberg einmal ausspricht. Aber Nichts ist vor-
eiliger und unhaltbarer. Die Geschichte der Prosa von Gorgias bis Demosthenes zeigt ein
Arbeiten und Ringen aus dem Dunklen, Ueberladnen, Geschmacklosen heraus zum Lichte
hin, dass man an die Mühsal der Heroen erinnert wird, welche die ersten Wege durch
Wald und Sümpfe zu bahnen hatten. Der Dialog der Tragödie ist die eigentliche That
der Dramatiker, wegen seiner ungemeinen Helle und Bestimmtheit, bei einer Volksanlage,
welche im Symbolischen und Andeutenden schwelgte, und durch die grosse chorische
Lyrik dazu noch eigens erzogen war: wie es die That Homer’s ist, die Griechen von dem
asiatischen Pomp und dem dumpfen Wesen befreit und die Helle der Architektur, im
Grossen und Einzelnen, errungen zu haben. [...] Die Schlichtheit, die Geschmeidigkeit,
die Nüchternheit sind der Volksanlage angerungen, nicht mitgegeben, - die Gefahr
eines Rückfalles in’s Asiatische schwebte immer über den Griechen, und wirklich kam es
von Zeit zu Zeit über sie wie ein dunkler überschwemmender Strom mystischer Regungen,
elementarer Wildheit und Finsterniss. Wir sehen sie untertauchen, wir sehen Europa
gleichsam weggespült, überfluthet - denn Europa war damals sehr klein -, aber immer
kommen sie auch wieder an’s Licht, gute Schwimmer und Taucher wie sie sind, das Volk
des Odysseus.
65,19 f. den ernsthaften und bedeutenden Begriff der „griechischen Heiterkeit“
richtig zu fassen] N. thematisierte schon im ursprünglichen Vorwort an Richard
Wagner (KSA 7, 351, 2-354, 14) sowie in einer Reihe von Fragmenten aus der
Entstehungszeit der Tragödienschrift diese „Heiterkeit“; mehrmals notierte er
 
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