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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0230
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Stellenkommentar GT 10, KSA 1, S. 71 209

Hauptakzent auf das Handeln und die Strukturelemente der Handlung legt. In
dem Basler Vortrag Das griechische Musikdrama, einer Vorstufe der Tragödien-
schrift, greift N. weiter aus: Der ursprüngliche Chor habe den Zuhörern einen
„schnell verständlichen Zug aus der Kampf- und Leidensgeschichte des Diony-
sos“ nahegebracht, und zwar durch „leidenschaftliche Chorgesänge“ (KSA 1,
527, 17-23). Mit dieser Verbindung von „Leiden“ und „Leidenschaft“ zielt N.
auf den griechischen Pathos-Begriff. Er fährt mit der Feststellung fort, daß im
griechischen Drama „der Accent auf dem Erleiden, nicht auf dem Handeln
ruht“ (528, 6 f.) und „das Erleiden, überhaupt das Gefühlsleben in seinen Aus-
brüchen, zum ergreifenden Eindrücke gebracht wurde“ (528, 12-14). Ja es sei
die Aufgabe der (Tragödien-)Musik gewesen, „das Erleiden des Gottes und des
Helden in stärkstes Mitleiden bei den Zuhörern umzusetzen“ (528, 28 f.). N.
entspricht damit der von Wagner in seinen theoretischen Schriften oft erhobe-
nen Forderung nach einem möglichst intensiven Ausdruck von „Gefühl“ und
nach „Gefühlserregung“.
71,19-24 Aber mit der gleichen Sicherheit darf behauptet werden, dass niemals
bis auf Euripides Dionysus aufgehört hat, der tragische Held zu sein, sondern
dass alle die berühmten Figuren der griechischen Bühne Prometheus, Oedipus
u. s. w. nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind.] N. erweitert mit
dieser spekulativen Behauptung die von der schwer zu deutenden Herodot-
Stelle (V 67) ausgehende Darstellung Karl Otfried Müllers (Geschichte der grie-
chischen Literatur bis auf das Zeitalter Alexanders, Zweiter Band, Breslau 1841).
Darin heißt es (S. 30): „Man sieht also, daß es damals nicht allein tragische
Chöre gab, sondern auch, daß deren Darstellungen bereits von Dionysos auf
Heroen übertragen worden waren, nämlich solche, die durch schwere Leiden
und Drangsale dazu geeignet waren. Hierin liegt ja überhaupt der Grund,
warum [...] hernach die Tragödie in der Regel, von Dionysos auf Heroen [...]
übertragen wurde“. Dies passte zu N.s Konstellation von Apollinischem und
Dionysischem. Ihr zufolge repräsentiert das Apollinische die Sphäre des gestal-
teten Individuellen - hier stehen dafür die „berühmten Figuren der griechi-
schen Bühne“ -, das aus dem dionysisch gestaltlosen Weltgrund hervorgeht
und sich in dessen Ur-Realität wieder auflöst wie der Schein im Sein - analog
zu Schopenhauers Konstellation von „Vorstellung“ und „Wille“.
71, 26-28 Es hat ich weiss nicht wer behauptet, dass alle Individuen als Indivi-
duen komisch und damit untragisch seien] Schopenhauer schreibt in WWV I,
4. Buch, § 58, Frauenstädt, Bd. 2, S. 380: „Das Leben jedes Einzelnen ist, wenn
man es im Ganzen und Allgemeinen übersieht und nur die bedeutsamsten
Züge heraushebt, eigentlich immer ein Trauerspiel; aber im Einzelnen durchge-
gangen, hat es den Charakter des Lustspiels. Denn das Treiben und die Plage
 
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