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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0231
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210 Die Geburt der Tragödie

des Tages, die rastlose Neckerei des Augenblicks, das Wünschen und Fürchten
der Woche, die Unfälle jeder Stunde, mittelst des stets auf Schabernack
bedachten Zufalls, sind lauter Komödienscenen“.
71, 31-72,1 wie überhaupt jene platonische Unterscheidung und Werthabschät-
zung der „Idee“ im Gegensätze zum „Idol“, zum Abbild tief im hellenischen
Wesen begründet liegt] Platon unterscheidet zwischen dem Reich der Ideen als
der jenseits von Raum und Zeit liegenden Sphäre ewigen und eigentlichen
Seins und der raum-zeitlichen, vergänglichen und scheinhaften Welt der
„eidola“ (EiöcüÄa), die im Verhältnis zu den Urbildern der Ideensphäre nur
„Abbilder“ sind. N. fügt dem aus dem Griechischen übernommenen Wort
„Idol“ noch die Bezeichnung „Abbild“ bei, um klarzustellen, daß es sich bei
Platon nicht um „Idole“ im modernen Sinn von falschen Idealen oder vergötz-
ten Vorstellungen handelt.
72, 1-6 Um uns aber der Terminologie Plato’s zu bedienen, so wäre von den
tragischen Gestalten der hellenischen Bühne etwa so zu reden: der eine wahrhaft
reale Dionysus erscheint in einer Vielheit der Gestalten, in der Maske eines
kämpfenden Helden und gleichsam in das Netz des Einzelwillens verstrickt.] Bei
Platon sind allein die Urbilder - die „Ideen“ - ontologisch real und „eingestal-
tig“ (povostösq), während die Abbilder kein eigenes Sein haben und in beliebi-
ger Vielheit zu sehen sind. Indem N. hier dieses Verhältnis zwischen Idee und
Abbild auf dasjenige zwischen Dionysos und der Vielheit seiner „Masken“ in
den konkreten Gestalten der Bühnenhelden überträgt, gibt er besonders deut-
lich sein ontologisierendes Verständnis des Dionysos zu verstehen.
72, 8-11 dass er überhaupt mit dieser epischen Bestimmtheit und Deutlichkeit
erscheint, ist die Wirkung des Traumdeuters Apollo, der dem Chore seinen
dionysischen Zustand durch jene gleichnissartige Erscheinung deutet.] In der
Reinschrift, welche die Vorlage des Druckmanuskripts bildete, heißt es:
was ungefähr vom Dionysus der aristophanischen) Komödie gelten mag. Vielmehr tragen
die tragischen Masken zugleich etwas an sich, das sie als Erscheinungen des Apollo kenn-
zeichnet. Und so wäre denn nach der platonischen Terminologie die tragische Maske zu
definiren als das gemeinsame Abbild zweier Ideen: wodurch wir zu dem Problem gelan-
gen werden, wie ein Erscheinendes zugleich das Spiegelbild zweier Ideen sein könne
und warum jetzt dieses Erscheinende ein Zwischending sei zwischen einer empirischen
Wirklichkeit und einer idealen d. h. im platonischen Sinn allein realen Wirklichkeit. Die-
ses Verhältniß complicirt sich dadurch, daß das Apollinische eben nichts andres ist als
die Idee der Erscheinung selbst (KSA 14, 50).
72,11-20 In Wahrheit aber ist jener Held der leidende Dionysus der Mysterien,
jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott, von dem wundervolle
 
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