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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0256
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Stellenkommentar GT 11, KSA 1, S. 77 235

Unwesen“. Die „Masse“, die er hier und auf den folgenden Seiten von GT 11
mit Abscheu beschwört, ist für das konservative Bildungsbürgertum des
19. Jahrhunderts der negative Inbegriff gesellschaftlicher Modernisierung. Die
abwertende Vorstellung von der „aufgeklärten Masse“ resultiert aus N.s strikter
Ablehnung einer „allgemeinen Bildung“, aus seiner Erschütterung durch den
Pariser Commune-Aufstand und aus seinem Plädoyer für Bildung als Privileg
einer kleinen Elite. In einem nachgelassenen Fragment, das zwischen Winter
1870/71 und Herbst 1872 entstand, heißt es (NL 1870/1871/1872, KSA 7, 8[57],
243, 4-9): „Die allgemeine Bildung ist nur ein Vorstadium des Communismus:
Die Bildung wird auf diesem Wege so abgeschwächt, daß sie gar kein Privile-
gium mehr verleihen kann. Am wenigsten ist sie ein Mittel gegen den Commu-
nismus. Die allgemeinste Bildung d. h. die Barbarei ist eben die Voraussetzung
des Communismus“. In einem der anschließenden Notate (NL 1870/1871/1872,
KSA 7, 8[59], 244, 8-16) erscheint „der Glaube an die Masse“ als „Unglaube an
den Genius“, und weiter heißt es darin: „ein Volk bekommt in seinen Genien
das eigentliche Recht zur Existenz, seine Rechtfertigung; die Masse produzirt
den Einzelnen nicht, im Gegentheil, sie widerstrebt ihm“.
Einen Anknüpfungspunkt für die Analogisierung der athenischen Zu-
stände gegen Ende des 5. Jahrhunderts (und ihre Widerspiegelung bei Euripi-
des) mit den von ihm abgelehnten „modernen“ Tendenzen im 19. Jahrhundert
konnte N. schon in den Fröschen und in den Wolken des Aristophanes finden.
An Aristophanes wiederum hielt sich der von N. gelesene und sogar exzerpierte
A. W. Schlegel. Beide, Aristophanes und A. W. Schlegel, wirkten weiter in dem
von N. intensiv herangezogenen Grundriß der Griechischen Litteratur von Gott-
fried Bernhardy (Zweiter Theil, Halle 1845). Darin heißt es S. 585 f.:
Aber eine neue Stufe betrat die Tragödiendichtung seit der Attischen Ochlokratie;
denn in dem Maße als diese die plebejischen Elemente des Staates stimmfähig machte
und den Sinn für ideale Poesie verflüchtigte, mußten auch die Tragiker sich den wandel-
baren Standpunkten des Tages bequemen. Die ochlokratischen Einflüsse berührten in der
Literatur sowohl Personen als Methoden und Objekte. Mit der Unruhe, welche sich damals
allgemein verbreitete, kam die geschäftige Reflexion zum Uebergewicht; sie löste die frü-
heren sittlichen Voraussetzungen in Gemeinwesen und Religion auf, an denen die Tragö-
die bisher ihre Nahrung und einen festen Boden gefunden hatte; Moral, Freiheit des
Willens und zufällige Momente der Bildung entschieden jetzt statt jedes objektiven Grun-
des [...] Von einer solchen Bewegung der Geister fortgerissen erhielt nun die Tragödie eine
ochlokratische Färbung: ihre Gedanken waren durch Subjektivität, durch Reflexion des
Verstandes [...] bestimmt, ihre Tendenzen von der verneinenden Art, indem sie Gemälde
von Widersprüchen und Gegensätzen der durch Leidenschaft gespannten menschlichen
Existenz zur Aufgabe nahm.
Bernhardy zieht das Fazit für Euripides, S. 832: „Einen Hauptpunkt hat indes-
sen Aristophanes ergriffen, den wir an die Spitze der gesamten Charakteristik
 
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