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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0257
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236 Die Geburt der Tragödie

stellen müssen: Euripides ist Dichter und Organ der Ochlokra-
tie“. In einer Notiz vom Herbst 1869 bezieht sich N. gerade auf diese Stelle
bei Bernhardy (NL 1869, KSA 7, 1[79], 35, 11 f.): „Bernhardy nennt Euripides
den Sprecher und Sittenmaler der Ochlokratie, seine Dichtung ihr ehrwürdiges
Denkmal“. Die Ochlokratie (oyAog = „Masse“) ist ein Phänomen der Nieder-
gangsphase der athenischen Demokratie während des Peloponnesischen Krie-
ges. Sie bot die willkommene Brücke zur pessimistischen Diagnose der herauf-
kommenden „Massen“-Zivilisation im 19. Jahrhundert. Allerdings unterscheidet
N. nicht, wie es dem wissenschaftlichen Standard seiner Zeit entsprochen
hätte, zwischen der von Aristophanes entworfenen Karikatur des Euripides
und den realen Zuständen seiner Zeit, die Euripides in seiner Dichtung reflek-
tierte. Schon Bernhardy bemerkte (S. 832), „daß er [Aristophanes] karikirt und
in verkehrter Fassung [...] ihm [dem Euripides] selber Schuld gibt, was in der
Zeit geistesverwandtes umlief; die Attischen Zustände seien voll envAAitüv
Evpimöov, Pac. 536“ [„Versehen des Euripides“; Aristophanes: Der Frieden, V.
536].
77, 34-78, 1 ja man würde sich getödtet haben, um noch mehr von ihm zu
lernen] Anspielung auf die von dem Komödien-Dichter Philemon überlieferte
Anekdote. Vgl. NK 76, 12-16.
78, 2-5 Mit ihr [der untergegangenen Tragödie] aber hatte der Hellene den
Glauben an seine Unsterblichkeit aufgegeben, nicht nur den Glauben an eine
ideale Vergangenheit, sondern auch den Glauben an eine ideale Zukunft.] In
den griechischen Tragödien ist, anders als N. hier insinuiert, nirgends von
„Unsterblichkeit“ und „idealer Vergangenheit“ die Rede. Im Gegenteil zeugen
die großen Mythen, die Aischylos, Sophokles und Euripides ausgestalten, von
einer finsteren Vergangenheit, etwa von der verhängnisvollen Kraft des
Geschlechterfhichs (Atriden-Mythos: Orestie, Elektra- und Iphigenien-Handlun-
gen), von Menschenopfern (Iphigenie), von Kämpfen und Greueln (Thebani-
scher Sagenkomplex: Ödipus, Antigone u. a.), von blutigen, ebenso zerstöreri-
schen wie selbstzerstörerischen Rachehandlungen (Medea), von Untaten an
Besiegten und Hilflosen (Trojanischer Sagen-Kreis und die entsprechenden
Tragödien des Euripides). Ebensowenig ist in der klassischen griechischen Tra-
gödie von „idealer Zukunft“ die Rede. N. projiziert, an dieser Stelle wie auch
sonst, Wagners Intentionen auf die griechische Tragödie zurück. Wagner selbst
inszeniert mit seinem Rückgriff auf den germanischen und mittelalterlichen
,Mythos4 nicht nur eine Vergangenheit, sondern entwirft in mehreren Schriften
auch ideale Zukunfts-Vorstellungen, so in der emphatisch die „Zukunft“
beschwörenden Schlußpartie seiner Hauptschrift Oper und Drama (GSD IV,
228 f.) und in der Schrift Das Kunstwerk der Zukunft (GSD III, 42-177). N. greift
 
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