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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0262
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Stellenkommentar GT 11, KSA 1, S. 78-79 241

waren Mysterien und Mysterienreligionen fast im ganzen Mittelmeerraum ver-
breitet. Pythagoras, der griechische Religionsphilosoph und Mathematiker,
lebte in der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. und begründete auf Elementen
der Mysterienreligion eine sektenartige Gemeinschaft; für den griechischen
Naturphilosophen Heraklit aus Ephesus (um 500 v. Chr.) hat N. eine Vorliebe,
wie besonders aus seiner Abhandlung Die Philosophie im tragischen Zeitalter
der Griechen hervorgeht (KSA 1, 822-835). In N.s Darstellung zeichnet sich
Heraklit durch „Intuition“ aus (schon in der Antike galt er als orakelhaft dun-
kel), dann durch eine Philosophie des dynamischen Werdens, durch die Auf-
fassung des Lebens als Kampf und seine stolze und einsame Verachtung der
„Masse“.
79, 5-8 Nun aber ist „Publicum“ nur ein Wort [...] Woher soll dem Künstler die
Verpflichtung kommen, sich einer Kraft zu accomodieren, die ihre Stärke nur in
der Zahl hat?] Der gesamte Abschnitt steht unter dem Leitthema „Publicum“
und indirekt unter dem des Erfolgs, für den sich N. auch in der 4. Unzeitgemä-
ßen Betrachtung: Richard Wagner in Bayreuth besonders interessierte (vgl.
KSA 1, 472, 12-474, 26). Ein nachgelassenes Notat vom Sommer-Herbst 1873
steht unter dem Stichwort „Vergötterung des Erfolgs“: NL 1873, KSA 7, 29[42],
644. Das Publikum erscheint als Ansammlung inkompetenter Menschen, aus
der sich nur sehr wenige urteilsfähige Kritiker abheben, wie die folgenden
Abschnitte zeigen. N. nimmt mit seinen Ausführungen zum Verhältnis von
Künstler und Publikum eine von Richard Wagner immer wieder traktierte Pro-
blematik auf.
79,13-19 In Wahrheit hat kein griechischer Künstler mit grösserer Verwegenheit
und Selbstgenügsamkeit sein Publicum durch ein langes Leben hindurch behan-
delt als gerade Euripides: er, der selbst da noch, als die Masse sich ihm zu
Füssen warf, in erhabenem Trotze seiner eigenen Tendenz öffentlich in’s Gesicht
schlug, derselben Tendenz, mit der er über die Masse gesiegt hatte.] Die Grund-
tendenz“ des Euripides war aufklärerisch. N. lehnt sie zuerst ab, dann aber,
im letzten Abschnitt dieses 11. Kapitels, weiß er sie, trotz seiner Vorbehalte
gegen die rationale Grundtendenz sowohl der „Kritik“ wie auch des „Den-
kens“, als Ausdruck „kritischen Denkens“ (80, 25) doch zu würdigen. Gerade
mit seiner aufklärerischen „Tendenz“ hatte Euripides aber keineswegs über die
„Masse“ gesiegt; er gewann in den Jahrzehnten, in denen er sich am öffentli-
chen Wettkampf der Tragödien-Dichter beteiligte, nur viermal den ersten Preis.
Die in ihrer Mehrheit konservativ eingestellten Athener ertrugen kritische Geis-
ter, die wie Euripides und Sokrates ihre Konventionen in Frage stellten, nur
schwer. Schon vorher hatten die Athener aufgeklärte Naturforscher und Philo-
sophen wie Anaxagoras (etwa 500-428 v. Chr.) und Protagoras - beide Freunde
 
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