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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0266
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Stellenkommentar GT 12, KSA 1, S. 80-82 245

geblieben, ja durch diesen Rationalismus sogar zugrunde gerichtet worden sei.
Indirekt kommt so eine entschiedene Aufklärungskritik zum Ausdruck. Wäh-
rend das Apollinische ursprünglich noch mit dem Dionysischen harmonieren
konnte, so GT 12, ist das Sokratische als eine Radikalisierung des Apollinischen
zu verstehen, die sich nicht mehr mit dem Dionysischen vereinbaren ließ, viel-
mehr zu dessen Ausschluss führte. Das Apollinische war vormals noch ein
Kunsttrieb, nun aber wendet sich die sokratische Tendenz prinzipiell gegen die
Kunst, weil sie nur das Wissen und das Bewußtsein gelten lassen will, das N.
aufgrund seines irrationalistischen Kunst- (letztlich: Musik-)Verständnisses als
Gegenmacht der Kunst interpretiert.
N. trägt zwar der offenkundigen Nähe des Euripides zur griechischen Auf-
klärung Rechnung, aber auf einseitige Weise. Er reduziert ihn auf einen ratio-
nalistisch flachen und vermeintlich optimistischen „Sokratismus“. Deshalb
sieht er sich gezwungen, das gerade bei Euripides chaotisch gegen alle bloße
Vernünftigkeit durchbrechende Irrationale, die große Leidenschaft - etwa in
der Medea und im Hippolytos (Phädra) - zur unauthentischen Schauspielerei
und Affekt-Inszenierung zu degradieren (84, 19-34) und andererseits zu ver-
schweigen, daß Euripides in mehreren seiner Tragödien, so an der Gestalt des
Jason in der Medea, eine schäbige und opportunistische ,Vernünftigkeit4 ent-
larvt und sich auch von einer dubiosen Sophisterei distanziert. Ganz außer
Acht bleibt in N.s Euripides-Kritik wie schon bei A. W. Schlegel, daß das leiden-
schaftlich erregte Gefühl über die vernünftige Überlegung siegt, sodaß daraus
eine selbstzerstörerische Tragik entsteht. Bevor Medea ihre furchtbare Tat
begeht, sagt sie (V. 1078-80):
Ich weiß wohl, was ich Schlimmes anrichte:
Doch stärker ist meine Wut als meine Überlegung.
(Kai pavOötvtü pcv oia öpäv pcAAco KaKÖt,
Ovpöq ÖE KpEidOGJV TCÜV EptÜV ßoVÄEVpÖtTCÜV).
82,11-83, 4 Euripides selbst hat am Abend seines Lebens die Frage nach dem
Werth und der Bedeutung dieser Tendenz in einem Mythus seinen Zeitgenossen
auf das Nachdrücklichste vorgelegt [...] in den „Bacchen“ [...] Jene Tragödie ist
ein Protest gegen die Ausführbarkeit seiner Tendenz; ach, und sie war bereits
ausgeführt! Das Wunderbare war geschehn: als der Dichter widerrief, hatte
bereits seine Tendenz gesiegt. Dionysus war bereits von der tragischen Bühne
verscheucht] Am „Abend seines Lebens“ war Euripides, als er 408 v. Chr. in
hohem Alter seine durch einen zwanzigjährigen Krieg und schwere innere Kri-
sen an den Rand des Untergangs geratene Vaterstadt Athen verließ. Er nahm
 
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