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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0268
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Stellenkommentar GT 12, KSA 1, S. 82 247

N. folgt nicht nur mit der Auffassung des Geschehens, sondern auch mit der
Berufung auf diese Verse einer seiner philologisch-historischen Quellen: Karl
Otfried Müllers Geschichte der griechischen Literatur bis auf das Zeitalter Ale-
xanders. Zweiter Band, Breslau 1841,21857. In Müllers Kurz-Darstellung der Bac-
chen heißt es S. 176: „Er [Euripides] erscheint darin gleichsam zum positiven
Glauben bekehrt, oder - um es genauer zu bestimmen - überzeugt, daß sich
das Vernünfteln der Menschen nicht gegen die Religion richten müsse, daß die
väterlichen Ueberlieferungen, welche so alt wie die Zeit sind, kein Verstand
umstürzen könne, daß die Weisheit, welche die Religion antaste, eine
schlechte Weisheit sei u. dgl.: Lehren, welche theils in den Reden der Greise
Kadmos und Teiresias mit einer besondern Eindringlichkeit ausgeführt werden,
theils der ganzen Anlage des Stücks zu Grunde liegen“. Müller setzt die Figu-
ren-Rede mit der Meinung des Autors Euripides gleich, N. fügt immerhin ein
zweifelndes „scheint“ ein. Allerdings macht er aus der „Überlieferung der
Väter“ „jene alten Volkstraditionen“ und fügt spekulativ „jene sich ewig fort-
pflanzende Verehrung des Dionysus“ hinzu. Aus dem Kontext geht aber hervor,
daß Dionysos als neuer Gott nach Theben kommt. Die Berufung der beiden
Greise auf die „Überlieferung der Väter“ betrifft also nur allgemein die
Gewohnheit, im Umgang mit den - für Euripides zweifelhaften - „Göttern“
(öotipomv) das Denken aufzugeben. Mit beißender Ironie stellt Euripides, der
auch in anderen Werken gerne depravierte Alte vorführt, die beiden Greise
bloß: Im Kontext versichern sie sich angelegentlich immer wieder gegenseitig
ihrer vermeintlich durch das Alter garantierten „Weisheit“, um das „Weise“ (to
oocpöv), d. h. das durch Denken als richtig Erkannte ohne weiteres suspendie-
ren zu können. Außerdem machen sie sich lächerlich, indem sie im dionysi-
schen Tanz mithüpfen und sich so der neuen religiösen Mode trotz ihres Alters
auf groteske Weise anpassen. Vollends subversiv verfährt Euripides, indem er
an Teiresias, dem berühmten Seher der alten, traditionellen Religion demon-
striert, wie behende er auf das Neue umschwenkt.
Euripides hatte in seinen früheren Werken immer wieder sowohl die „Göt-
ter“ wie auch das Seherwesen ad absurdum geführt. Ein schon zu N.s Zeit
bekanntes Fragment aus seinem Bellerophontes bringt seine Darstellungsstra-
tegie auf folgenden Nenner: „Wenn die Götter etwas Schimpfliches tun, sind
sie keine Götter“ (ei 0eo( tl öptooi cpavAov, ovk eiaiv 0eo( [Variante: öpcooiv
otioxpöv] Frg. 286 b 7, Kannicht, Tragicorum Graecorum Fragmenta, Vol. 5, 1,
2004). Der von N. adaptierten Bekehrungs- und Widerrufsthese zufolge aber
ließ Euripides am Ende den thebanischen König Pentheus als Repräsentanten
der bisher vertretenen kritisch-aufgeklärten Haltung unterliegen, um so selbst
dem Gott in ,dionysischer4 Begeisterung zu huldigen. Dies ist aus mehreren
Gründen unwahrscheinlich. Denn der Gott agiert hier als tückischer Verführer
 
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