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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0273
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252 Die Geburt der Tragödie

sung vom Sommersemester 1870 hatte N. notiert: „Der Euripides-Cultus ist der
älteste u. der verbreitetste - bis auf A. W. Schlegel“ (KGW II 3, 45). Die Bezeich-
nung „Euripides-Cultus“ fand N. in dem von ihm benutzten Werk von Julius
Leopold Klein über die Geschichte des Drama’s (vgl. NK S. 42 f.), wo es im
ersten Band, S. 417, heißt: „Auch liess der Widerspruch gegen den Euripides-
Cultus nicht lange auf sich warten. Schon vor A. W. Schlegel hob Jacobs, in
den Nachträgen zu Sulzer’s Theorie der Künste, die Mängel des Tragikers her-
vor, und weit gründlicher und gerechter als Schlegel; aber auch immer noch
mit voller Anerkennung und Bewunderung für die grossen Vorzüge, Verdienste
und das tragische Genie des Euripides“. Kurz vorher (S. 412) heißt es bei Klein:
„Um keines Dichters Seele haben guter und böser Engel, Vergötterung und
Verdammniss so heftig gestritten und gerungen, wie um die dramatische
Kunstseele des Euripides: von Aristophanes’ komischer Hölle bis zu J. A. Har-
tungs komischem siebenten Himmel, in den er seinen heilig gesprochenen Tra-
giker erhoben. J. A. Hartung konnte 1843 eine unabsehbare Reihe von Phileuri-
piden (Euripides-Freunden) bis herab in das Zeitalter überschauen, das seine
zwei dicken Bände entstehen sah“. Auf diesem Hintergrund wird erkennbar,
wie entschieden N. sich in einen schon längst zur Mode gewordenen Partei-
kampf um Euripides stürzte, wie einseitig er dies tat und wie er trotz der ihm
wohlbekannten Fülle von Euripides-Bewunderern sogar meinte behaupten zu
können, Euripides sei „von den Kunstrichtern aller Zeiten in einen Drachen
verwandelt worden“.
83, 25f. das dramatisirte Epos] Vgl. NL 1870/1871/1872, KSA 7, 8[7], 222,
16f.: „Versuch des Euripides, das Drama ganz apollinisch zu machen, als dra-
matisirtes Epos“.
83, 29 f. Goethe in seiner projektirten „Nausikaa“] N.s Überlegungen zur Diffe-
renz von Dramatischem und Epischem, die er in die Kategorien des Dionysi-
schen und Apollinischen zu übertragen versucht, resultieren aus dem zu sei-
nen Lektüren gehörenden Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller sowie
aus der in diesem Zusammenhang verfaßten Abhandlung Goethes Über epische
und dramatische Dichtung (1797). Anläßlich seines Plans zu einer Nausikaa-
Tragödie erwog Goethe „eine dramatische Konzentration der ,Odyssee“4 und
bemerkte: „Ich halte sie nicht für unmöglich, nur müßte man den Grundunter-
schied des Drama und der Epopöe recht ins Auge fassen“ (Italienische Reise.
Unter Taormina, am Meer, 8. Mai 1787). Daß Goethe für sein Drama den von
N. erwähnten Selbstmord der Nausikaa plante, geht aus einer späteren „Erin-
nerung“ hervor, die Goethe 1816 der Italienischen Reise beifügte: aus ent-
täuschter Liebe zu Odysseus, dem sie zuvor das Leben gerettet hatte, sollte
Nausikaa den Tod in den Wellen suchen.
 
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