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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0297
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276 Die Geburt der Tragödie

Mittelpunkt der sokratischen Tendenz. Mit ihm verurtheilt der Sokratismus eben
so die bestehende Kunst wie die bestehende Ethik] Bündiger formuliert N. in
der Abhandlung Socrates und die Tragoedie: „Der Sokratismus verachtet den
Instinkt und damit die Kunst“ (KSA 1, 542, 12). In Platons Dialogen trifft Sokra-
tes überall nur auf die „Einbildung des Wissens“, und er erkennt, daß seine
Zeitgenossen, mit denen er das Gespräch sucht, „ohne richtige und sichere
Einsicht“ seien. Die weitergehende Aussage, Sokrates habe festgestellt, daß ihr
Tun „nur aus Instinct“ entsprungen sei, ist aus Platons Apologie des Sokrates
(22 b) abgeleitet: „Ich erfuhr also auch von den Dichtern in kurzem dieses,
daß sie nicht durch Weisheit dichteten, was sie dichteten, sondern durch eine
Naturgabe und in der Begeisterung“. „Einbildung“ und Mangel an „sicherer
Einsicht“ sind allerdings nicht mit der naturgegebenen Sicherheit des Instinkts
gleichzusetzen oder zu verbinden.
N. verfolgt die Intention, Sokrates und dem „Sokratismus“ (89, 26) eine
instinktfeindliche, d. h. naturwidrige Geisteshaltung zuzuschreiben, und
außerdem setzt er das Instinktgemäße und Naturgemäße mit dem gestehen-
den4 und ,Vorhandenen4 gleich („die bestehende Kunst wie die bestehende
Ethik“, „Verwerflichkeit des Vorhandenen“). Darüberhinaus entspricht es nicht
den Texten Platons, die diese Problematik mit der Figur des Sokrates verbin-
den, daß Sokrates die „bestehende Ethik“ „verurtheilt“ habe. Sokrates verur-
teilt nicht, sondern hinterfragt, und dies mit dem Ziel, zu einer genaueren
Rechenschaft über Tun und Werten hinzuführen (Aöyov öiöövoti); dazu dient
die Methode des EÄeyxoq, der Prüfung in einem Gespräch, das oft in einer
Aporie endet. In dem aporetischen Dialog Eutyphron, in den der Asebieprozess
gegen Sokrates hereinspielt, geht es um die Frage, ob man Frömmigkeit ohne
Rücksicht auf traditionelle Meinungen ausschließlich aufgrund eines wider-
spruchsfreien Denkens definieren kann. N. imaginiert eine konservativ inspi-
rierte Kulturkampfszene, die den Basler ,Antimodernismus4 (Bachofen, Burck-
hardt) als aktuellen Hintergrund hat. Deshalb ist anschließend von einer alten
Kulturwelt die Rede, „deren Zipfel mit Ehrfurcht zu erhaschen wir uns zum
grössten Glücke rechnen würden“ (89, 30-90, 2).
Differenzierter stellt N. das Problem der Loslösung von den „Instinkten“ in
den Aufzeichnungen zu seiner Vorlesung Die vorplatonischen Philosophen (WS
1869/70 u.ö.) dar, zugleich aber läßt er auch einen tieferen Grund für seine
vehemente Ablehnung des Sokrates erkennen: die demokratischen Konsequen-
zen, die sich aus dessen Verfahren und Haltung ergeben (auf die demokrati-
sche Haltung des Sokrates wies schon Diogenes Laertius hin, den N. intensiv
studiert hatte): „Bis dahin genügten die einfachen Sitten u. religiösen Vor-
schriften: die Philos. der sieben Weisen war nur die in Formeln gebrachte über-
all in Griechenland geachtete u. lebendige praktische Moral. Jetzt tritt die
 
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