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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0298
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Stellenkommentar GT 13, KSA 1, S. 89-90 277

Lösung von den moralischen Instinkten ein: helle Erkenntniß soll das einzige
Verdienst sein, aber mit der hellen Erkenntniß hat der Mensch auch die
Tugend. Denn das ist der eigentl. sokrat. Glaube, daß Erkennen u. sittlich sein
zusammenfallen. Nun ist die Umkehrung dieses Satzes im höchsten Grade
umwälzend: überall wo nicht helles Erkennen ist, ist to koiköv. Hier wird
Socrates zum Kritiker seiner Zeit: er untersucht, wie weit sie aus dunkeln
Antrieben, wie weit sie aus Erkenntniß handelt. Dabei ergiebt sich das demo-
kratische Resultat, daß die niedrigsten Handwerker höher stehen als Staats-
männer Redner Künstler seiner Zeit“ (KGW II 4, 354). Besonderen Wert legte
N. auf die niedere Herkunft des Sokrates, aus der sich seine kulturfeindliche
Einstellung ergebe: „Sein Vater Sophroniskos, aus der Gens der Daidaliden,
seine Mutter Phainarete, eine Hebamme. Er unterscheidet sich von allen frühe-
ren Philosophen durch seine plebejische Abkunft und durch eine ganz geringe
Bildung. Gegen die ganze Kultur u. Kunst war er immer feindselig. Ebenso
gegen die Naturwissenschaft“ (KGW II 4, 352).
90, 6-10 Wer ist das, der es wagen darf, als ein Einzelner das griechische
Wesen zu verneinen, das als Homer, Pindar und Aeschylus, als Phidias, als Peri-
kies, als Pythia und Dionysus, als der tiefste Abgrund und die höchste Höhe
unserer staunenden Anbetung gewiss ist?] Mit Homer, Pindar und Aischylos
nennt N. drei Dichter der archaischen Zeit, mit Phidias (etwa 500-432 v. Chr.)
den berühmtesten Bildhauer, der mit seinen Werken schon weit in die ,klassi-
sche4 Phase der perikleischen Ära hineinreicht. Zu seinen bekanntesten Wer-
ken gehörte das Standbild der Stadtgöttin Athene im Parthenon (,Athena Par-
thenos4) und die Kultstatue des Zeus von Olympia; er leitete die Arbeiten an
mehreren unter Perikies errichteten Bauten auf der Akropolis und war Freund
und Berater dieses bedeutendsten athenischen Staatsmannes (etwa 495-429
v. Chr.), den N. sofort anschließend nennt. Perikies förderte die demokrati-
schen Reformen nach der Zeit der Adelsherrschaft und weitete die Macht
Athens in entscheidender Weise aus. Sein umfassendes Bauprogramm auf der
Akropolis brachte die Stellung Athens als führende Macht Griechenlands zum
Ausdruck. Thukydides nannte in einer prägnanten Formulierung das Athen
der perikleischen Zeit „dem Namen nach eine Demokratie, in Wahrheit aber
die Herrschaft des ersten Mannes“ (Aöyqj pcv öppoKpaTia, Epyqj öe und toü
nptüTOV ävöpöq äpxp, II 65, 9-10). Mit der Pythia, der delphischen Orakelver-
künderin, die in den Bereich Apollons gehört, und mit Dionysos nennt N. die
kultischen Instanzen, die für seine Konzeption des ,Apollinischen4 und des
, Dionysischen4 relevant sind.
Insgesamt ergeben die von N. zur Definition des „griechischen Wesens“
genannten Namen ein Spektrum, das von der Literatur über Kunst und Politik
bis in die religiös-kultische Sphäre reicht und sich von 800 v. Chr. über die
 
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