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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0299
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278 Die Geburt der Tragödie

archaische bis in die ,klassische4 Zeit in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts
erstreckt. Der Versuch, daraus „das griechische Wesen“ zu synthetisieren, ist
ebenso problematisch wie die Unterstellung, Sokrates habe dies alles „vernei-
nen“ wollen. Dies betrifft besonders die noch in Sokrates’ eigene Zeit hineinrei-
chende perikleische Ära der griechischen Aufklärung, die N. in der Gestalt
des Sokrates, wie schon vorher in derjenigen des Euripides, paradigmatisch
attackiert. Denn Perikies, der Repräsentant der kulturellen Hochblüte Athens,
stand der griechischen Aufklärung keineswegs fern, er war sogar ein Freund
und Beschützer großer Aufklärer wie Anaxagoras und Protagoras. Schon daran
scheitert das von N.s Aufklärungsfeindschaft motivierte Unternehmen, einen
Gegensatz von Aufklärung und ,Kultur4 zu konstruieren. Mit der „höchsten
Höhe“ dieser Kultur meint N. selbst die glanzvolle Kultur der perikleischen
Zeit, mit dem „tiefsten Abgrund“ - der Begriff „Abgrund“ hat schon in den
früheren Partien von GT eine ebenso positive Bedeutung wie das Beiwort
„tief“ - die unergründlich vorrationale Sphäre der Pythia und des Dionysos.
90, 13-15 „Weh! Weh! Du hast sie zerstört, die schöne Welt, mit mächtiger
Faust; sie stürzt, sie zerfällt!“] Nach Goethe, Faust I, V. 1607-1612, wo der Geis-
terchor zu Faust sagt:
Weh! Weh!
Du hast sie zerstört,
Die schöne Welt,
Mit mächtiger Faust;
Sie stürzt, sie zerfällt!
Ein Halbgott hat sie zerschlagen!
90, 16-18 jene wunderbare Erscheinung, die als „Dämonion des Sokrates“
bezeichnet wird.] In Platons Verteidigung des Sokrates (31c-d) spricht Sokrates
von einer inneren Stimme, die etwas „Dämonartiges“: eine unbegreifliche
Macht habe; sie rate von bestimmten Handlungen ab. N. deutet diese innere
Stimme als „instinctive Weisheit“ (20 f.). In einer nachgelassenen Notiz vom
Herbst 1869 setzt er das Dämonion des Sokrates mit dem Unbewußten gleich
(NL 1869, KSA 7, 1[43], 21, 20-25): „Das Unbewußte ist größer als das Nichtwis-
sen des Sokrates. / Das Dämonion ist das Unbewußte, das aber nur hin-
dernd dem Bewußten hier und da entgegentritt: das wirkt aber nicht pro-
duktiv, sondern nur kritisch. Sonderbarste verkehrte Welt! Sonst ist das
Unbewußte immer das Produktive, das Bewußte das Kritische“.
90, 21-24 Die instinctive Weisheit zeigt sich bei dieser gänzlich abnormen
Natur nur, um dem bewussten Erkennen hier und da hindernd entgegenzutre-
 
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