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Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0300
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Stellenkommentar GT 13, KSA 1, S. 90-91 279

ten.] Von „instinktiver“ Weisheit ist in Platons Dialog sowenig die Rede wie
von „bewusstem Erkennen“. N. leitet mit dieser von ihm konstruierten Opposi-
tion über zu der im Folgenden entwickelten Ablehnung des Bewußtseins als
fragwürdig „logischer“ Rationalität zugunsten des Instinkts und einer ihm ent-
sprechenden ,Mystik4. Die Behauptung, Sokrates sei eine „gänzlich abnorme
Natur“ gewesen, radikalisiert N. noch 1888 in einer Nachlaßnotiz: „Sokrates
ist ein Moment der tiefsten Perversität in der Geschichte der Menschen“
(NL 1888, KSA 13,14[111], 289,16 f.) In der Götzen-Dämmerung stellt das Kapitel
Das Problem des Sokrates diese Leitfigur der antiken und dann überhaupt der
europäischen Philosophie in den Horizont der im Spätwerk dominierenden
Decadence-Vorstellung. Einem Plan zum „Willen zur Macht“ zufolge hätte ein
Kapitel über „Philosophie als decadence“ mit einer Abhandlung „Das Problem
des Sokrates“ beginnen sollen (KSA 14, 413).
90, 32 Superfötation] Hier im Sinne von Wucherung. Nach streng medizini-
scher Definition ist „Superfoetatio“ eine „Überschwängerung“, d. h. eine
zweite Schwängerung nach einer schon stattgefundenen ersten Befruchtung.
90, 30-91, 9 Sokrates als der speciflsche Nicht-Mystiker [...], in dem die
logische Natur [...] excessiv entwickelt ist [...] jenem in Sokrates erscheinenden
logischen Triebe [...] wie das ungeheure Triebrad des logischen Sokratismus
gleichsam hinter Sokrates [...] wie durch einen Schatten hindurch angeschaut
werden muss.] Im insistierend wiederholten ,Logischen4 konzentriert sich das
Begriffsfeld, in dem N. schon bisher den „Verstand“, den „Rationalismus“, das
„Wissen“, das „Bewußtsein“, die „Verständigkeit“, die „Kritik“, das „Denken“
und die Annahme von „Causalität“ angesiedelt hatte. Vgl. die antagonistische
Konstellation mit der Vorstellung des „Unlogischen“ als der eigentlichen Reali-
tätsschicht in NL 1869/1870, KSA 7, 3[51], 74, 11-16: „Der Pessimismus ist die
Folge der Erkenntniß vom absolut Unlogischen der Weltordnung: stärkster
Idealismus wirft sich in Kampf gegen das Unlogische mit der Fahne eines
abstrakten Begriffs, z. B. Wahrheit, Sittlichkeit usw. Sein Triumph Leugnung
des Unlogischen als eines Scheinbaren, nicht Wesentlichen“.
Der Passus über das „ungeheure Triebrad des logischen [= logifizierenden]
Sokratismus“, das „gleichsam hinter Sokrates in Bewegung ist, und wie dies
durch Sokrates wie durch einen Schatten hindurch angeschaut werden muss“
(91, 6-9), ist eine ahistorische Metaphorisierung des unaufhaltsamen histori-
schen Prozesses der griechischen Aufklärung, als deren individueller, aber
letztlich doch überindividuell zu verstehender Exponent Sokrates erscheint. -
Zur „Logik“ als einer im Zeichen des Sokratismus stehenden „Wissenschaft“
vgl. auch 101, 19-28.
 
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