Metadaten

Schmidt, Jochen; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,1): Kommentar zu Nietzsches "Die Geburt der Tragödie" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70910#0305
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
284 Die Geburt der Tragödie

von Richard Alewyn und Rainer Gruenter, Tübingen 1966, S. 53. N. besaß eine
aus dem Jahr 1774 stammende Ausgabe von Gellerts Fabeln.
92, 24-26 Wie Plato, rechnete er sie zu den schmeichlerischen Künsten, die
nur das Angenehme, nicht das Nützliche darstellen] Platon, Gorgias 5O2d. Zum
Wortlaut und zum Kontext vgl. den Kommentar zu 92, 7 f. Die Analogie zwi-
schen Sokrates und Platon („Wie Plato, rechnete er ...“) läßt außer Acht, daß
Platon diese Aussage, wie die schon bisher von N. angeführten anderen Aussa-
gen, seiner Sokrates-Figur in den Mund legt. N. vermeidet es generell, auf die
Schwierigkeit einzugehen, daß seine Mitteilungen über Sokrates bloß auf Pla-
ton beruhen und dieser seine literarisierte Sokrates-Figur weitgehend zum
Medium eigener philosophischer Thesen macht.
Die hier zu erörternde Stelle spielt auch auf die Ars poetica des Horaz an,
V. 333: „Die Dichter wollen entweder nützen oder erfreuen“ („aut prodesse
volunt aut delectare poetae“). Als „nützlich“ galt vorzugsweise die einer Dich-
tung zugrunde liegende moralische Lehre, als „angenehm“ der ästhetische
Genuß, den die Dichtung bewirkt.
92, 26-31 und verlangte deshalb bei seinen Jüngern Enthaltsamkeit und strenge
Absonderung von solchen unphilosophischen Reizungen; mit solchem Erfolge,
dass der jugendliche Tragödiendichter Plato zu allererst seine Dichtungen ver-
brannte, um Schüler des Sokrates werden zu können.] Diogenes Laertius schreibt
über den jungen Platon (2, 5f.): „Auch mit Malerei gab er sich ab und mit
dichterischen Versuchen, zuerst mit Dithyramben, dann auch mit Liedern und
Tragödien [...] Als er dann mit einer Tragödie in den Wettbewerb eintreten
wollte, verbrannte er, des Sokrates Mahnungen folgend, seine Dichtungen vor
dem Dionysischen Theater [...] Von da ab - er war zwanzig Jahre alt - war er
ununterbrochen des Sokrates Hörer“.
93, 4-9 Ein Beispiel dafür ist der eben genannte Plato: er, der in der Verurthei-
lung der Tragödie und der Kunst überhaupt gewiss nicht hinter dem naiven
Cynismus seines Meisters zurückgeblieben ist, hat doch aus voller künstlerischer
Nothwendigkeit eine Kunstform schaffen müssen, die gerade mit den vorhande-
nen und von ihm abgewiesenen Kunstformen innerlich verwandt ist] Vom „nai-
ven Cynismus“ des Sokrates spricht N. insofern, als dieser Bedürfnislosigkeit
und Genügsamkeit nicht wie die Kyniker zum Inhalt einer philosophischen
Lehre machte, sondern einfach „naiv“ entsprechend lebte. Antisthenes, von
dem die kynische Schule und auch die ihr verwandte Schule der Stoiker aus-
ging, war ein Schüler des Sokrates. Daß Platon seinen philosophischen Dialo-
gen eine „Kunstform“ verlieh, die aufgrund der dialogischen Struktur sowie
szenischer Elemente an die des Dramas erinnert und auch erzählerische Strate-
gien erkennen läßt, wurde schon vor N. oft bemerkt.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften